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Leone’s Meisterwerk im Theater-„Aquarium“: Mehr als eine Kopie

Robert Prinzler gibt den Eisenbahn-Tycoon Morton, der mit raffinierter Hinterlist sein Spiel vorantreibt. Foto: Staatstheater Braunschweig / ©Joseph Ruben

Wer etwas kopieren will, das schon perfekt ist, muss ein Chinese oder ein Dummkopf sein. Denn die Kopie kann das Original nie übertreffen, sondern höchstens versuchen, es einzuholen. Das wusste offenbar Regisseur und Autor Klaus Gehre, als er sich zu dem Wagnis entschloss, den fast fünfzig Jahre alten Spaghetti-Western-Klassiker „Spiel mir das Lied vom Tod“ in Welturaufführung auf der neuen „Aquarium“-Bühne des kleinen Hauses als Theaterstück zu zeigen.

Wie soll das funktionieren?, fragt sich erschrocken der skeptische Film-Fan. Ohne Charles Bronson, ohne Claudia Cardinale, ohne Henry Fonda? Ohne rasante Schnitte, Weitwinkelfahrten, einen staubigen Western-Bahnhof? Wie soll man aus einem Actionfilm ein Kammerspiel machen, noch dazu als Einakter? Was wird da im „Aquarium“ versenkt???

Jill McBain (Yevgenia Korolov) und „Mundharmonika“ (Valentin Erb) verbinden ähnliche Motive auf ihrem Rachezug. Foto: Staatstheater Braunschweig / ©Joseph Ruben

Es sind die Helden wie Eisenbahn-Mogul Morton (Robert Prinzler) in der ureigenen amerikanischen Saga von der Kraft der Zivilisation und der Visionen, die über den Einzelnen mit seinen beschränkten Mitteln triumphieren. „Das hier ist die stärkste Waffe der Welt. Wenn man damit umgehen kann“ erklärt Morton dem raubeinigen Westernhelden Frank (Götz van Ooyen in Hochform) die Spielregeln seines neuen Amerika, und wirft dem Revolver-fuchtelnden Cowboy ein Bündel Dollars vor die Füße. Cleverness, Planung, strategisch-ökonomischer Einsatz der Mittel, dazu eine Portion innovative Wagnis – das hat aus einer inhomogenen Masse von Glücksrittern und Kuhtreibern ja auch tatsächlich jenes Amerika geformt, das wir, trotz aller Kritik, noch immer und manchmal fremdelnd bestaunen.

Regisseur Klaus Gehre hatte keine dicken Dollarbündel und auch nur eine ziemlich kleine Spielfläche in der Rotunde des hundert Zuschauer fassenden „Aquarium“. Dafür aber Ideen und Visionen, die skurril und schlüssig aufgingen. Die wechselnden Hintergründe projiziert er mit ultrakleinen Videokameras auf eine Riesenleinwand, die das Bühnenbild ersetzt. Westernstadt-Kulisse und Eisenbahn stammen aus dem Modellbauladen und werden während der Vorstellung – wie beim Stadtrundgang mit dem Selfie-Handy – abgefilmt und an den Projektor gesendet. Auch Barbie und ihr Ken spielen mit. So wird der Zuschauer sogar zum Voyeur der (braven) Bettszene zwischen Jill McBain (fordernd-verführerisch: Yevgenia Korolov) und Frank, den sie zu ihrem Schutz braucht – obwohl sie eigentlich ein Auge auf den namenlosen Mundharmonikaspieler (Valentin Erb) geworfen hat.

 

Lack- statt Rauhleder: Kostümbildnerin Mai Gogishvili verpasste den harten Revolverhelden Cheyenne (Tobias Beyer) und „Mundharmonika“ (Valentin Erb) glänzende Outfits. Foto: Staatstheater Braunschweig / ©Joseph Ruben

Schön auch, wenn Cheyenne (Tobias Beyer) genüsslich Pistazien wegmümmelt und die Schalen achtlos auf den Fußboden vor sich wirft. Im entscheidenden Augenblick des Aufpralls auf dem Fußboden zeigt die Mini-Kamera riesengroß, wie sie vor seinen Cowboy-Stiefeln über die Bretter stieben. Der Ideenschmied Gehre hat hier eine begeisternde Spielform kreiert.

Dass Sergio Leones Meisterwerk „Once upon a Time in the West“ unter dem reißerischen Titel „Spiel mir das Lied vom Tod“ in die deutschen Kinos kam, war seinerzeit dem Verleih geschuldet. Zahlreiche Schnitte und wohl auch einige Dialog-Änderungen bei der Synchronisation machten aus dem Streifen mit der Musik von Ennio Morricone ein Epos aus Rache, Gier und Mord, das keine gesellschaftliche Entwicklung duldete, sondern statisch in Stereotypen verharrte. In der (deutschen) Filmfassung verabschieden sich die Überlebenden Jill und „Mundharmonika“ in aussichtloser persönlicher Einsamkeit. Im Original wird hingegen nicht ausgeschlossen, dass sich die Wege der einstigen „Attraktion im besten Bordell von New Orleans“ und des namenlosen Rächers noch einmal kreuzen, nachdem alle anderen Protagonisten das Zeitliche gesegnet haben.

Klaus Gehre will sich im Theaterstück ebenfalls auf kein vorgezeichnetes Ende festlegen; rettet aber Wahrheiten, die in der Bilderflut des Films untergehen. So endet Jill im Theater nicht als Zynikerin, sondern als Pragmatikerin, die „als billige, dreckige Hure stehlen, lügen betrügen und töten“ würde, um ihr Leben zu retten. Und Morton darf, bevor er standesgemäss im Dreck endet, noch feststellen: „Empathie ist der Schlüssel zur Zukunft. Wenn ich was von wem will, muss ich mich in ihn hineindenken können.“ Pragmatische Zweck-Empathie à la Amerika eben. Das macht ihn nicht nur zum Vordenker für Leones’ letztes Epos „Es war einmal in Amerika“, sondern auch zur Vorlage für einen Donald Trump.

Langer Beifall und strahlende Gesichter bei der anschließenden Premierenfeier krönten die mutige, unterhaltende und stimmig inszenierte Aufführung, die mehr Tiefgang aufblitzen ließ als das filmische Original-Meisterwerk.

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