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Zu Viel auf Einmal: „Zerrissene Zeiten“ im Städtischen Museum

 

Oberbürgermeister Ulrich Markurth (links) und Museumsdirektor Dr. Peter Joch vor einer der zahllosen Schautafeln im Museums-Lichthof. Foto: Klaus Knodt

Das Jahr 1918 markiert in Deutschland nicht nur das Ende des Ersten Weltkriegs, sondern zugleich den völligen Zusammenbruch des alten, monarchistischen Gesellschaftssystems und das Ringen um die Demokratie. Arbeiter und revolutionäre Kräfte in Braunschweig waren Triebkraft und Vorreiter dieser gesellschaftlichen Umwälzung. Sie zwangen am 8. November 1918 den Welfen-Herzog Ernst-August zur Abdankung und deklarierten 2 Tage später die Sozialistische Republik Braunschweig unter August Merges.

 

 

OB Markurth (links) und Museumsdirektor Dr. Peter Joch bewundern eine Wahlurne der Bayerischen Landtagswahl um 1819; mithin rund 100 Jahre vor der Revolurion in Braunschweig. Foto: Klaus Knodt

Das Städtische Museum Braunschweig (SMBS) hat sich der schwierigen Aufgabe angenommen, diese Zeitenwende mit der Ausstellung „Zerrissene Zeiten – Krieg. Revolution. Und dann?“ nachzuzeichnen. Ab Donnerstag, 4. November, ist sie als Höhepunkt des stadtweiten Projekts „Vom Herzogtum zum Freistaat – Braunschweigs Weg in die Demokratie 1916 – 1923“ im Haus Am Löwenwall zu sehen. Oberbürgermeister Ulrich Markurth strich während der Vorbesichtigung heraus: „Wir haben in den städtischen Gremien lange über diese Präsentation diskutiert.“ Die Ausstellung veranschauliche „ein Lehrstück, das heute hochaktuell ist. Es zeigt, wie verletzbar die Demokratie ist“ und sei somit „eine Mahnung für heute.“ Sie „erzählt von den Potenzialen jener Aufbruchszeit und dokumentiert die – letztlich gescheiterten - Versuche, nach der Revolution die Demokratie im Alltag und in der Gesellschaft zu verankern.“ Er hoffe, dass die Ausstellung besonders „für Schüler ein interessantes Projekt ist. Keine DIN-A-5-Fibel, sondern ein Stück Geschichte zum Anfassen.“

 

Die Ausstellung im Lichthof des Städtischen Museums wird auf „Schollen“ dargestellt. Foto: Klaus Knodt

Doch zum Anfassen gibt es kaum etwas. Der Direktor des Städtischen Museums, Dr. Peter Joch, sagt: „Um Geschichte lebendig werden zu lassen, finden sich in der Schau sprechende Sinnbilder. Halb zerstörte Husaren-Figuren aus der Zeit des Herzogtums Braunschweig, die Fotografien der Revolution flankieren, stehen für die Zerlegung und Auflösung der alten Gesellschaft. Im Lichthof ragen ineinandergeschobene zackige Schollen auf, die Objekte tragen. Diese Schollen verweisen symbolisch auf die Zerrissenheit der Zeit, auf den Verlust der Fundamente einer nunmehr labilen Gesellschaft, auf die Schubkräfte und die Unkalkulierbarkeit der Geschichte."

Diesem Anspruch kann das ambitionierte Projekt allerdings kaum genügen. Gezeigt werden auf den „Schollen“ sujetbedingt überwiegend Plakate, Schriftstücke, Pamphlete, Dokumente. Dazwischen ein paar Militaria, Gemälde, Haushaltsgegenstände oder Mode aus der damaligen Zeit – stumme Objekte von merkwürdiger Leblosigkeit, die in ihrer Fülle zu Platzhaltern werden, anstatt Zeitzeugnis abzulegen. Das mag der inhaltlichen Überfrachtung auf zu kleinem Raum geschuldet sein. Sieben Kapitel der Ausstellung sollen die „Risse, Paradoxien und Widersprüchlichkeiten der Gesellschaft nach 1918 widerspiegeln“. Die selbst auferlegten Ansprüche (alles der verquaste Pressetext der Stadt Braunschweig):

- "Riss durch die Zeit" erzählt von der Revolution, demokratischen Wahlen, der Zersplitterung der politischen Landschaft und den rechtsgerichteten gegenrevolutionären Freikorps.

- "Dem Morgenrot entgegen – Industriegeschichte, Arbeiterbewegung. Revolution" spannt einen Bogen von den repressiven Sozialistengesetzen des Kaiserreichs bis zu den Aufständen von 1918. - "Werkzeug Erinnerung" veranschaulicht, wie die Erinnerung an den Krieg politisch funktionalisiert, wie der tote Soldat zum Instrument der Parteien wurde. - "Kind der Revolution – der Freistaat" widmet sich der neuen Verfassung und der innovativen Politik des Freistaats Braunschweig, von der Bodenreform bis zur Bildungspolitik, die einen Wandel vom monarchisch geprägten zum demokratischen Unterricht gestaltete. - "Gebaute Gesellschaft – Architektur nach 1918" zeigt, wie die Architekten der Zeit auf die Umbrüche seit der Novemberrevolution reagierten. Themen sind unter anderen die Reformarchitektur von Carl Mühlenpfordt, Arbeitersiedlungen und schließlich die Konzepte des Bauhauses. - "Die Neue Frau" zeigt, wie sich das Frauenbild nach dem Umbruch der Gesellschaft veränderte. Zentrale Themen sind das Frauenwahlrecht und eine neue weibliche Alltagskultur. - "Zeitfern? Kunst der 1920er" veranschaulicht die Verbindungen Braunschweigs zur internationalen Kunstszene der Zeit. Unter anderem wird eine Ausstellung des Sammlers Otto Ralfs mit Werken von Emil Nolde bis Paul Klee versuchsweise (und mit viel Aufwand) nachgestellt.“

Deutlich werde hierbei die "Zeitferne" der Künstler, die Politik als Thema aussparten, so Museumsdirektor Dr. Peter Joch.

 

Oberbürgermeister Ulrich Markurth in einem „Schilderhaus“ (um 1840 – 1850), das vor dem ehemaligen Residenzschloss stand. Mit der Revolution hat es allerdings nichts zu tun.Foto: Klaus Knodt

Das Alles im Museums-Lichthof und drei weiteren Sälen – zu eng, zu eingepfercht, zu wenig wohldurchdacht, zu undidaktisch, zu unoriginell, zu unprofessionell, zu kleinstädtisch. Allein die Architekturgeschichte Braunschweigs in den Zwanziger Jahren – vom Bebelhof über das Siegfriedviertel bis zur heutigen AOK-Geschäftsstelle am Fallersleber Tore – hätte gereicht, um themenfüllend eine eigene Ausstellung zu füllen, die das Umdenken in der damaligen Gesellschaft gegenüber den Bauten aus wilhelminischer Zeit dokumentiert. Eine Einzelausstellung zur Rolle der Frau in Gesellschaft und Politik hätte der gesamten Ausstellungsfläche bedurft, anstatt die wohlfällig angerissene Reminiszenz an die lokalfeministische Ikone Minna Fasshauer zu befeuern. Und die Lage der unteren Klassen im Braunschweig nach Ende des Ersten Weltkrieg möchte besser durch sinnlich erlebbare Exponate dokumentiert, als durch leblose Dokumente beschrieben werden – da fehlen anschauliche Nachbauten einer Arbeiterwohnung mit Klosett auf zweiter Halbtreppe oder der Maschinenwirklichkeit von Arbeitern ohne Arbeitsschutz bei Büssing. Die Kriegsversehrten, das Elend der Witwen mit ihren Kindern, die Notrationen, der Hunger, die Seuchen aufgrund hygienischer und medizinischer Unzulänglichkeit – alles spart diese Ausstellung aus oder reißt sie nur hilflos zwischen Ritterorden, Wachhäuschen und Maschinengewehr-Exponaten an.

 

Links ein Bild, dazwischen ein Frauen-Badeanzug aus den 20-er Jahren, rechts Kulturdezernentin Dr. Anja Hesse: So will das SMBS dem Thema „Die neue Frau“ gerecht werden. Foto: Klaus Knodt

So wie die Revolution 1918 letztlich gescheitert ist, scheitert das Städtische Museum an deren Abbildung 100 Jahre später und tragischerweise aus denselben Gründen: Man will (soll) zuviel auf Einmal in zu kurzer Zeit. Auch da mag das Primat der Politik eine Rolle gespielt haben. Dem 200-seitigen Ausstellungskatalog, ohne den sich die Ausstellung nicht erschliesst (24,95 €, unbedingt vorher kaufen und vorher lesen!) ermangelt es leider an einer geschichtlichen Zeittafel der Geschehnisse zwischen 1916 und 1923. Da kann man schon von einem groben Stockfehler sprechen.

Öffnungszeiten: Di – So 10 – 17 Uhr, Städtisches Museum Braunschweig, Haus am Löwenwall, Steintorwall 14, 38100 Braunschweig, Tel.: (0531) 470 4521, www.braunschweig.de/museum .

Eintritt: Erwachsene 5,00 €; Ermäßigung (für Schüler, Studierende, Auszubildende, Menschen mit Behinderung, Rentner sowie Inhaber des "Braunschweig Passes") 2,50 €; Kinder von 6 – 16 Jahre 2,00 €; Schulklassen und Kinder bis 6 Jahre freier Eintritt.

Die Veranstaltungsreihe "Vom Herzogtum zum Freistaat – Braunschweigs Weg in die Demokratie 1916 – 1923" des Dezernats für Kultur und Wissenschaft mit rund 70 Veranstaltungen findet sich unter www.braunschweig.de/1918.

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