„Le Havre“ im Kleinen Haus: Darf man von Hoffnung sprechen?

Eine überragende Gertrud Kohl (links) und Konstantin Bühler bilden mit ihren unterschiedlichen Schicksalen den Dreh- und Angelpunkt der Aufführung. Foto: Thomas M. Jauk

Der finnische Star-Regisseur Aki Kaurismäki hat montalang Europa bereist, bis er die richtige Kuliusse für sein Sozialmärchen „Le Havre“ entdeckte. Erst die jahrzehntelang kommunistisch geprägte Arbeiterstadt an Seine-Mündung und Ärmelkanal gab 2011 seinem preisgekrönten Film einen Namen und dem Stück einen Handlungsort.

Zwischen Bar und Lebensmittelhändler, Krankenhaus und Bäckerei lässt der Meister der leisen Zwischentöne sein liebevolles Porträt der kleinen Leute erblühen, das nun von Christoph Diem und Holger Schröder für die Bühne adaptiert und im Staatstheater Braunschweig (Kleines Haus) uraufgeführt wurde. Im Mittelpunkt steht die Geschichte des Schuhputzers Marcel Marx (Konstantin Bühler), der den bei einer Polizeirazzia geflüchteten Flüchtlingsjungen Idrissa (Noah Groß) aus Gabun versteckt. Eigentlich wollte das Containerkind aus Libreville nach London, wo seine Mutter lebt. Schon bald sucht die Polizei in Form von Kommissar Monet (enorm wandlungsfähig: Heiner Take) nach Idrissa. Hier könnte die Geschichte ein Kriminalplott, ein abgehobenes Kammerstück oder (schlimmstenfalls) eine holzhammerige Sozialtragödie werden.

Idrissa (Noah Groß), Chang (Götz van Ooyen) und Marcel Marx (Konstantin Bühler) solidarisieren sich in der Küche. Foto: Bettina Stoess 

Doch all dem ist nicht so. Denn die Geschichte spinnt die Nebenfäden von Marx’ todkranker Frau Arletty (von dieser Bühne nicht wegzudenken: Gertrud Kohl, die auch noch den Part der Rockerbraut Mimi übernimmt), eines Denunzianten (Klaus Meininger) und des ständig betrunkenen Kneipengasts „Little Bob“ (Luca Füchtenkordt) als Webfäden in den bunten Teppich der proletarischen Gutmenschen ein – frei nach dem Motto „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“. Dieter Wedel hätte (wie im „König von St. Pauli“) Kitsch aus dieser Gemengelage gemacht – der Autor und die Regisseure grounden „Le Havre“ immer wieder auf realem Boden, Etwa, wenn der Halbchinese Chang (Götz van Ooyen) resignierend bemerkt: „Im Mittelmeer gibt’s mehr Ausweise als Fische. Denn Einer ohne Ausweis ist schwerer auszuweisen.“

 

Im Gewand von Inspector Clouseau kommt Kommissar Monet (Heiner Take) daher. Als „Arletty“ und „Mimi“ stemmt Gertrud Kohl im Einakter souverän eine Doppelrolle. Foto: Bettina Stoess

Das Braunschweiger Regieteam hat bizarre und überraschende Einfälle in den andertalbstündigen Einakter gebaut. Mangels Umbaupausen schieben die Darsteller ihre benötigten Hintergrund-Requisiten auf die Bühne; die Bartrinker in der Hafenkneipe müssen ihren Tresen selbst in der Hand halten. All das nimmt die Angst vor dem Ernst des sperrigen Themas Flüchtlingskrise.

Mit dem jungen Noah Groß (spielte schon in „Jim Knopf“) hat die Spielleitung ein vielversprechendes Talent entdeckt. Er leidet nicht devot unter seiner Stellung als Flüchtling, wenn Arletty etwa anordnet: „Stell den Jungen unter die Dusche und kauf’ ihm was zum Anziehen“, sondern nimmt im Rahmen seiner Möglichkeiten sein Schicksal selbst in die Hand. Zum (überaschend glücklichen) Schluss sogar als Bühnen-Schlagzeuger.

Im furiosen Finale glänzt Luca Fürchtenkordt, mit viel Beifall bedacht, sogar live als Rocksänger. Zum Schluss zehn Minuten Applaus, mangels Vorhang keine Vorhänge.

Die einst kommunistische Industrie- und Arbeiterstadt Le Havre, im Krieg brutalst verwüstet, war 2011 noch eine der letzten „linken“ Kommunen in Frankreich. Die von Kaurismäki im Film/Stück herbeigesehnten und beschworenen Werte Menschlichkeit, Anstand und Solidarität, das Miteinander einer utopisch-freundlichen Gesellschaft, ist auch dort nicht mehr intakt. Bis 2017 regierte im Rathaus der rechtsliberale Bürgermeister Edouard Philippe – dann machte Frankreichs Staatspräsident Macron ihn zum neuen Premierminister. Immerhin ist der Absolvent der Eliteschule ENA noch stolz darauf, dass sein Urgroßvater „der erste Kommunist in Le Havre“ war. War das Stück mit seinen Charakteren also bloss überholte Arbeiter- und Kleinbürgerromantik? Oder darf man „von Hoffnung sprechen“, wie der Programmflyer anregt?