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Bericht aus Bumsdorf XVII - Der lange Marsch

Vor der Geburt war uns von verschiedenen Seiten versprochen worden, dass Säuglinge „18 Stunden oder mehr pro Tag schlafen“. Bei Nele handelt es sich eher um das Wochenpensum. Langsam verfestigt sich in mir der Eindruck, das Opfer einer groß angelegten Verschwörung zur Täuschung und Irreführung werdender Eltern geworden zu sein.

Es erfordert zudem einen nicht geringen Zeitaufwand, Nele ins Bett zu bringen. Sie will nämlich nicht schlafen. Noch nicht. Und eigentlich nie.

Manchmal jedoch schläft sie beim Stillen ein. Dann höre ich wieder die mahnende Stimme der Hebamme, die so ausschaut, wie man sich eine Hebamme so vorstellt: mütterlich. Ihr Busen wogt wie die stürmische See und ihr Becken ist so breit wie der Swimmingpool im städtischen Freibad: „Lassen Sie das Kind bloß nicht an der Brust einschlafen!“ höre ich sie super-nanny-streng sagen. Was sollen wir tun? Sie kneifen? Oder ihr einen extrastarken Kaffee einflößen?

Auch diesmal fallen ihr die Augen zu. Anita versucht, Nele von der Brust abzurupfen und in ihr Bettchen zu legen. Nele protestiert energisch gegen dieses Vorhaben. Nun ist sie wieder wach.

Das nutzen wir, um sie bei vollem Bewusstsein (ohne Narkose!) in ihr Kinderbettchen zu legen, was ihr offensichtlich missfällt, denn jeder Versuch, sie hier allein einschlafen zu lassen, wird mit lautstarken Protestrufen quittiert.

Auch ich würde gerne quittieren – und zwar den Dienst.

Stattdessen greife ich zum letzten Mittel, das mir einfällt. Der Holzhammer unter den Einschlafmethoden: Wir gehen spazieren.

Das heißt natürlich: Ich gehe spazieren, während Nele derweil warm eingepackt im Kinderwagen herumliegt. Das ist eine ziemlich sichere Methode, sie zum Schlafen zu bringen. So gehe ich forschen Schrittes los. Das Problem ist: Ich darf nicht stehen bleiben. Sobald ich Anstalten dazu unternehme, wird Nele wach. Erst geht ein Auge auf, dann noch eins, dann noch eins ... quatsch ... dann der Mund, der sich bedrohlich öffnet, als wollte er mich verschlingen... Dann quetscht sich ein leises Quietschen aus ihm heraus, das sich zu einem infernalischen Kreischen steigert...

Schnell gehe ich weiter, denn die Fußgängerampel ist grün geworden. Geschafft. Das Maul des Ungeheuers schließt sich und auch die Augen klappen nach einiger Zeit wieder zu. Sobald ich jedoch stehen bleibe, weil ich mich an die Verkehrsregeln halte oder mit Bekannten auf der Straße ein Schwätzchen halten möchte, öffnet sich misstrauisch ein Zyklopenauge. Schnell gehe ich weiter, schlängle mich hastig durch den Verkehr. Das Kind muss schlafen! Ich will nicht mehr mit ihr spielen, ich will sie nicht füttern, ich will sie nicht wickeln. Ich will meine Ruhe haben!

Das Zyklopenauge schließt sich wieder. Ich atme auf. Noch mal geschafft. Ich laufe weiter.

Ich spüre, wie ich eine Blase an meinem rechten Fuß bekomme.

Doch ich muss weiter, immer weiter. Ich bin auf der Flucht. Auf der Flucht vor Nele, die ich vor mir herschiebe. Die Nacht lässt ein schwarzes Tuch über die Stadt fallen. Aber wo ist die Stadt überhaupt? Ich weiß nicht mehr wo ich bin, weiß nur, dass hier keine Ampeln sind und keine Bekannten. Hier sind überhaupt keine Menschen. Nur Bäume und ein Weg, der sich durch diesen finsteren Wald hindurchwindet. Er wird immer schmaler und schmaler und holpriger und holpriger, geht in Unterholz über und in Schlamm unter.

Nele schläft. Gut so.

Meine Schuhe habe ich abgestreift, sie wurden sowieso nur noch durch das verkrustete Blut meiner offenen Blasen zusammengehalten.

Apropos Blase! Sie drückt.

Was soll ich tun? Sobald ich anhalte, um mich an einen der Bäume zu stellen, wird Nele wieder wach werden und mich anschreien: „Beweg dich, fauler Hund!“ Ich glaube schon den Hauch der Peitsche in meinem Nacken zu spüren.

„Ja, Missy“, werde ich dann sagen. „Buona.“

Doch es geht nicht anders.

Ich lasse sie stehen und stelle mich an meinen nächstgelegenen Freund, den Baum. Und lasse laufen.

Es will gar nicht aufhören.

Es läuft immer noch.

Ich höre schon die Wachwerdgeräusche aus dem Kinderwagen. Ein Rascheln und Krascheln. Sie knurrt leise.

Es läuft immer noch. Ich bin seit Stunden (Tagen?) nicht mehr auf Toilette gewesen.

Und es läuft und läuft und läuft.

Das Knurren wird lauter.

Endlich fertig. Ich will ihn trockenschütteln.

Es kommt noch mehr, tropft mir auf meine blanken Füße.

Nele bellt mich an.

„Ich komme!“ rufe ich. „Ich bin schon fast da!“

Der Reißverschluss klemmt beim Hochziehen. Zack! Ich ziehe ihn trotzdem hoch. Aaaahhh, diese Schmerzen. Egal, ich habe mich ja schon fortgepflanzt.

Ich haste zum Kinderwagen.

Geschafft! Nein, doch nicht. Ich greife daneben, stürze zu Boden und schlage mir an einem Findling den Kopf auf. Eine warme Flüssigkeit läuft mir über die Augen.

Beruhigend beuge ich mich über den Kinderwagen und sage: „Ist alles gut, Papa ist da.“

Sie schreit noch lauter, reißt die Augen auf.

„Musst nicht weinen“, sage ich, während ich im Vollmondlicht sehen kann, wie das Blut von meinem Kopf auf das Deckchen im Kinderwägelchen tropft. „Hab dich lieb!“

Nele glaubt mir nicht. Sie will gar nicht aufhören zu schreien!

Ich beschließe aufzugeben und gehe dem Morgengrauen entgegen. Dort im Osten muss irgendwo meine Heimatstadt liegen. Ich werde sie erreichen und Nele sicher zuhause abgeben und wenn es das letzte ist, was ich tue.

Als ich unser Viertel betrete, kommt mir Herr Müller entgegen. Er weicht auf die andere Straßenseite aus. Nele kreischt immer noch. Seit zwei Stunden.

Frau Meyerbeer, die auf einem Kissen aufgestützt das morgendliche Treiben beobachtet, schließt das Fenster, als sie mich sieht, und zieht die Vorhänge zu. Erschöpft klingele ich an unserer Wohnungstür.

Anita lässt mich rein. „Ahh, danke Schatz! Endlich konnte ich mal schlafen.“

Ich mache Anstalten zu ihr ins Bett zu fallen, will sie umarmen.

„Nein, nein“, sagt sie, „ich muss jetzt zur Arbeit!“

Dann schnappt sie sich Nele und beginnt sie zu stillen.

„Ah, wie schön!“ Anita ist begeistert. „Nele schläft heute gar nicht an meiner Brust ein!“ Und zu Nele sagt sie: „Komm, geh schön mit Papa spielen!“

Nele ist hellwach, ich bin todmüde. Ich möchte schlafen, aber vorher noch an Anitas Brust liegen. So wie früher. Oder war das ein anderes Leben? Eine andere Welt?

„Ich muss los!“ sagt Anita. „Und wasch dich mal. Du siehst vielleicht aus! Nele muss auch noch dringend gewickelt werden.“

Meine Tochter ist hellwach, denn sie hat genug geschlafen. Sie hat ihr Wochenpensum schon erfüllt. Vielleicht, wenn ich ein wenig mit dem Kinderwagen spazieren gehe...

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Zum letzten Bericht aus Bumsdorf, XVI
Zum ersten Bericht aus Bumsdorf

Mehr von Axel Klingenberg und anderen Braunschweiger Autoren gibt es hier:

Bumsdorfer Gerüchteküche,
Braunschweigs leckerste Lesebühne, mit Axel Klingenberg, Roland Kremer, Marcel Pollex, Daniel Terek und dem Gaststar Henning Chadde (Hannover)
13. November, 20.00 Uhr
KaufBar, Bolchentwete 1, Braunschweig
http://www.bumsdorfergerüchteküche.de

Weihnachtslesung in der Bücherei Wenden:
Unter dem Motto „Heimatliches, Weihnachtliches und der ganze Rest“ liest Axel Klingenberg Geschichten über lebensbedrohliche Weihnachtsmarktbesuche, traumatische Julklapp-Veranstaltungen und gerade noch überstandene Familienfeiern
Bücherei Wenden, Heideblick 20, Braunschweig-Wenden
4. Dezember, 19.30 Uhr
Eintritt 6,00 Euro, Schüler frei
Infos und Reservierung: Tel. 05307-15 02

http://www.buecherei-wenden.de

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