Gedanken im April - 2017
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- Veröffentlicht: Samstag, 22. April 2017 06:00
- Geschrieben von Meinhard Miegel - Denkwerk Zukunft
Es ist stets das Gleiche. Werden Menschen in Ländern wie Deutschland nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen, ihrer persönlichen Sicherheit oder ganz allgemein nach ihrer Lebenszufriedenheit befragt, sind ihre Antworten oft in Dur gestimmt. Geht es hingegen um die Lage ihrer Mitbürger oder gar um das Gemeinwesen insgesamt, überwiegen die Molltöne. Der Grundakkord ist: Mir selbst geht es zum Glück recht gut. Für andere gilt dies leider nicht.
Über diese Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdeinschätzung ist viel nachgedacht und geforscht worden. Kleiner geworden ist sie dadurch nicht. Was immer im eigenen Erfahrungsbereich liegt, erscheint zumeist heller und freundlicher als die durch Dritte, namentlich Medien vermittelte Wirklichkeit. Diese ist von einem Grauschleier überzogen. Verkehrschaos, Wohnungsnot, Scharen von Armen. Selbstverständlich ist so eine Weltsicht nicht.
Eine Eintrübung erfährt sie bereits durch die Auswahl der Nachrichten, mit denen Wirklichkeit transportiert werden soll. Deren Breite und Farbigkeit spiegeln sie noch nicht einmal andeutungsweise wider. In der Regel sind sie auf das Spektakuläre fokussiert, auf den grünen Esel mit den roten Beinen. Das das Leben bestimmende Alltägliche, die kleinen Freuden und Sorgen – für sie ist im Kosmos vermittelter Wirklichkeit nur selten Platz.
Hinzu kommt die Lust an virtuell verbreitetem Grauen und Schrecken, an Tragödien und Katastrophen. Die in den Medien tagtäglich zum Schein Ermordeten legen beredtes Zeugnis hiervon ab. Und ist der Letzte für den Moment in sein Kino- oder Fernsehgrab gelegt worden, stehen sogleich die Heerscharen derer auf, die an irgendetwas gescheitert oder zumindest zu kurz gekommen sind: bei ihren Eltern, in der Schule, dem Betrieb, die Opfer von Konkurrenz und Globalisierung. Nicht selten entsteht der Eindruck, als bestehe die Gesellschaft aus einer dünnen Schicht – unverdient! – Glücklicher und der Masse zu kurz Gekommener.
Dies als Lüge zu bezeichnen wird dem eigentlichen Sachverhalt nicht gerecht. Denn Lügen sind gar nicht so häufig und in halbwegs transparenten Gesellschaften zumeist auch leicht durchschaubar. Viel wirkmächtiger ist die fortwährende Eindunkelung vermittelter Wirklichkeit, an der Produzenten und Konsumenten teilhaben. Mehr noch: Beide Seiten sind hier geradezu eine Symbiose eingegangen. Die Konsumenten vermittelter Wirklichkeit meinen, diese nicht ohne Würzung verdauen zu können und die Produzenten erhalten für diese Würzung klingenden Lohn.
Auf diese Weise entsteht eine Scheinwirklichkeit, die sich aus Wahrheiten, Halbwahrheiten und Nichtwahrheiten, aus Fakten, alternativen Fakten und Fiktionen zusammensetzt. Immer weniger ist was es scheint, immer weniger scheint was es ist. Sich in einer solchen Welt zurecht zu finden ist schwer und mitunter unmöglich. Der einzelne ist auf sich selbst und die von ihm selbst erfahrene Wirklichkeit zurückgeworfen. Und die ist für viele lebenswert und licht. Die vermittelte Wirklichkeit hingegen erscheint ihm zunehmend als undurchdringliches Dickicht voller undeutbarer Bilder und Töne, eine Kakophonie von Empfindungen.
Auch das gehört zur Kultur einer Gesellschaft. Entspricht es ihrem Selbstverständnis, wenn sie allabendlich durch das virtuelle Abschlachten von Mitmenschen Entspannung sucht, statt durch Gespräche, Musik und die vielen Dinge, die ein Leben lebenswert und heiter machen? Soll die zunehmend destruktive Kluft zwischen selbst erfahrener und vermittelter Wirklichkeit überwunden werden, müssen sich alle, Produzenten und Konsumenten dieser Vermittlung, wieder einem ehrlicheren Wirklichkeitsverständnis zuwenden – in Dur und Moll, in hell und dunkel. Denn vermittelte Wirklichkeit kann schlussendlich keine andere sein als die Summe der vielen unmittelbar erfahrenen Wirklichkeiten.