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Gedenken zum 80. Jahrestag des nationalsozialistischen Terrors in der Wolfenbütteler Innenstadt, 6. Juli 2013

Gedenkstein auf dem Friedhof Lindener Straße in Wolfenbüttel.

Die Namen der drei - Fischer, Perkampus und Alfred Müller - sind durch Namen derjenigen ergänzt worden, die erst später an den Folgen der Folterungen gestorben sind (Siehe auch B-S). Heinrich Wedekind wurde vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und ist im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet worden.

Gedenkrede:

Gedenkfeier vor dem Haus Mühlenstraße 5. Im ersten Stock dieses Fachwerkhauses fanden die Folterungen statt. Noch fehlt eine Gedenktafel an dem Haus, die darauf hinweist.

Vielen Dank, dass Sie sich für diese kleine Gedenkfeier einen Moment Zeit genommen haben.

Bisher fanden Gedenkveranstaltungen für die drei ermordeten Männer auf dem Friedhof Lindener Straße statt, auf dem sich dieser Gedenkstein befindet. Heute soll die Erinnerung einmal hier stattfinden, wo die Gewalttaten tatsächlich - mitten in unserer Stadt, auf den Tag genau vor achtzig Jahren - ausgeübt worden sind.

Nachdem Ende Juni im Braunschweiger Eichtal der Nazi Gerhard Landmann von eigenen Leuten irrtümlich erschossen worden war - der Mord wurde den Kommunisten angelastet, begannen die Nazis im gesamten Freistaat eine Jagd auf Andersdenkende - auf Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Nazis beschlossen, für einen Nazi 10 Andersdenkende umzubringen. Daraus wurde das furchtbare Massaker in Rieseberg, am 4. Juli, ein paar Tage vor den Wolfenbütteler Morden. Hier im Landkreis Wolfenbüttel überfielen die Nazis mehrere Orte: Schöppenstedt, Remlingen, Wittmar, Groß Denkte, Kissenbrück, Linden, Wendessen - und verbreiteten Angst und Schrecken durch ihre Gewaltorgien.

In Schöppenstedt sperrten bereits am 23. März dort eingefallene SA-Männer unter der Führung des Wolfenbütteler SA-Führers Wilhelm Hannibal Straßen, um Sozialdemokraten und Kommunisten einzufangen. Die Männer wurden dann im SA-Lokal "Stadtkeller" in Schweineställen gefangen gehalten und einzeln zum gewaltsamen Verhör geprügelt.

Hier in der Mühlenstraße 5 in der ersten Etage befanden sich 1933 noch die Räume der Kreisleitung der NSDAP. Kreisleiter war damals Herbert Lehmann.

Ein anderer Ort des Schreckens war das Gebäude Kanzleistraße 2, in der sich bis zur Schließung die freisinnige Weltliche Schule befunden hatte. In diesen Räumen wurden am 26. und 27.  Juli 1933 ungefähr 40 - 45 sozialdemokratische Frauen und Männer "verhört" und regelrecht verprügelt. Einige wurden entlassen, die anderen kamen in die Folterkeller der AOK in Braunschweig.

Ein gänzlich unbekannter Ort der Gewalttätigkeit war das Haus in der Langen Herzogstraße/Ecke Bärengasse, in dem sich seinerzeit die Geschäftsstelle der AOK befand. Der Geschäftsführer der Krankenkasse, der Sozialdemokrat Otto Rüdiger, war schon lange abgesetzt worden. Andere Mitarbeiter wurden im Keller des Hauses verprügelt.

Zu den Prügelstätten gehörte auch die in eine SA-Kaserne umgewandelte Seifenfabrik am Okerufer/Grüner Platz. Hier wurden unter anderem auch Arbeiter aus Dettum verprügelt.

Aber das Haus, in dem Menschen auf besonders viehische Weise gequält und verprügelt wurden, war dieses Haus.

Am Abend des 6. Juli 1933 trafen sich SS-Männer mit dem SS-Hauptsturmführer Josef Keppels und dem Kreisleiter Hermann Lehmann im Kaffeehaus Lambrecht, einem beliebten Treffpunkt der Wolfenbütteler Nazis, zur Planung einer Aktion gegen Mitglieder und Funktionäre der Wolfenbütteler KPD.

Nach 23 Uhr drangen Nazis in die Wohnungen ein und nahmen die Männer mit, wie sie sie gerade vorfanden. Es waren: Albert Kwijas, Fritz Röttger, Alfred Perkampus, Fritz Fischer, Anton Steinki, Albert Stübig senior, Adolf Otte, Alfred Müller, Rober Haese, Karl Rönicke, Kurt Strupat, Robert Seeboth senior, Karl Heise und Willi Block. Alle "Verhafteten" wurden unter Prügeln hier in das erste Obergeschoss geschleppt. Unter den Augen des damaligen Kreisleiters Lehmann vollzog sich eine Gewaltorgie. Alle Männer wurden brutal mit Gummiknüppeln und Ochsenziemern misshandelt. Am folgenden Morgen transportierten die SS-Männer alle mit einem LKW in die zentrale Folterstätte im AOK-Gebäude in Braunschweig. Alfred Perkampus war bereits tot, Fritz Fischer und Alfred Müller waren bewusstlos.

Es gab eine Augenzeugin dieser Gewaltorgien: Eine Bewohnerin des Hauses, deren Wohnung über der NSDAP-Geschäftsstelle lag, konnte über den Innenhof hinweg durch ein Fenster die Misshandlungen beobachten: Alles was meine Augen hier zu sehen bekamen, war viehische Tyrannei im wahrsten Sinne des Wortes. Noch heute vernehme ich deutlich die Schreie misshandelter Menschen, die in Todesangst nur noch mit letzter Kraftanstrengung schrien, bis sie unter Hohngelächter leblos zusammenbrachen.

Einige der Ehefrauen der Abgeholten liefen zum Stadtmarkt und hörten dort noch die Schreie der verprügelten Ehemänner. Was mag in den Köpfen der Menschen vorgegangen sein, die hier in der Nähe gewohnt haben. Mir liegen darüber keine Informationen vor.

Frau Perkampus beschrieb den Überfall der SS-Männer: "Gegen 24 Uhr erschienen mehrere SS-Leute, darunter Karl Salmanski, traten die Küchentür ein und stürmten unter Schimpfen und Drohungen gleich ins Schlafzimmer. Salmanski prügelte sofort auf meinen Mann ein, fasste ihn ins Genick und warf ihn die Treppe hinunter. Auf meine Einwendung, daß sich mein Mann erst die Hose anziehen müsse, antwortete er: Die Hose behalten sie man gleich hier, denn die reißen wir ihm doch wieder runter."

Gemeinsam mit anderen Männern wurden sie in die NSDAP-Kreisstelle in der Mühlenstraße gebracht. Frau Perkampus folgte dem Trupp bis zum Stadtmarkt. Salmanski beschimpfte sie: Du Kommunistensau, geh man nach Hause, dein Mann geht jetzt schwimmen.

Alfred Perkampus wurde am 3.9.1896 in Wolfenbüttel geboren. Nach dem Schulbesuch lernte er Maurer. Während des 1. Weltkrieges "diente" er in der Gaskolonne der 8. Armee als Luftschiffer an der Ostfront. 

Nach dem Krieg arbeitete er wieder als Maurer. Mehrere Jahre lang arbeitete er bei der Baugenossenschaft "Eigenhilfe". Er war aktives Mitglied des Arbeiter-Turn-Vereins Vorwärts. 1924 heiratete er in Elise Jasper. Im Juni 1925 kam ihr Sohn Alfred zur Welt. Perkampus war trat der KPD bei und wurde mit dem Amt des Hauptkassierers beauftragt. Als Angehöriger des Roten Frontkämpferbundes beteiligte er sich am Schutz von Veranstaltungen der KPD gegen Übergriffe der Nazis. Bereits Anfang Februar 1933 war er das erste Mal verhaftet worden -  bis zum 7. Mai.  Wahrscheinlich stand diese Haft im Zusammenhang mit einem Aufruf der KPD zum Generalstreik. Denn nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verteilte die KPD ein Flugblatt mit diesem Wortlaut: An die Arbeiterschaft Wolfenbüttels: Kollegen, Klassengenossen! Die politische Lage in Deutschland hat Formen angenommen, die Parole Abwarten oder kleineres Übel, hat uns mit eindringlicher Wucht bewiesen, wohin wir gekommen sind. Kollegen, Genossen, Erwerbslose, die Parole heißt heute nicht mehr Abwarten, sondern handeln. Generalstreik zum Sturz dieser Regierung muß unsere Antwort sein. Heute Abend sieben Uhr große Massenkundgebung auf dem Schloßplatz. Massen heraus. Es lebe die Einheitsfront aller Arbeiter.
gez. Rönnicke, Wallstraße 1.

Fritz Fischer wurde beim Betreten des Raumes, in dem die Folterungen stattfanden, die Hose heruntergerissen und auf den Tisch geworfen und fürchterlich geschlagen. Nach der Tortur war er nicht mehr in der Lage, selbständig zu gehen: Er war voller Blut, und der Darm trat ihm aus dem After heraus. Man fasste ihn am Kragen und schleppte ihn zu dem bereits zu Tode geprügelten Alfred Perkampus.

Fritz Fischer wurde am 20.4.1891 in Linden geboren. Nach dem Besuch der Volksschule lernte er Maurer. Den 1. Weltkrieg verbrachte er in einer Fliegereinheit. Er erhielt eine Ausbildung zum Funker, erwarb Kenntnisse im Lesen militärischer Karten und war Flugzeugbeobachter. 1918 kehrte er, mit dem EK II ausgezeichnet, nach Wolfenbüttel zurück. Er schloss sich der USPD an und gründete nach einer politischen Wende der Partei mit Genossen 1919 die Wolfenbütteler KPD. Schon bald erhielt er führende Ämter und wurde auch zum Stadtverordneten und zum Kreistagsabgeordneten gewählt. Hier vertrat er mit großer Entschiedenheit soziale Belange, die durchaus auch zum Erfolg führten. Er unterstützte den weiteren Ausbau der Weltlichen Schule in der Kanzleistraße. Durch seine ideologische Agitation geriet er schon bald ins Visier der anderen Parteien, besonders der Nationalsozialisten. Die revolutionäre Ausrichtung der KPD führte zu einer engen Überwachung der Partei und ihrer Mitglieder durch die von Militärs geleiteten Sicherheitsorgane. So wurden Perkampus und Fischer verdächtigt, ihre militärisch/fliegerischen Kenntnisse bei einem befürchteten Umsturz anwenden zu wollen. Bei Fischer fand daher am 5. Oktober 1924 eine Hausdurchsuchung statt. In dem polizeilichen Bericht wird er zitiert: Ich bin kein militärischer Leiter für meinen Wohnort, sondern ich habe nur die politische Leitung des Kreises Wolfenbüttel der KPD.

Fischers Tätigkeit im Roten Frontkämpferbund und seine kompromisslose Haltung gegen die NSDAP und ihre in Wolfenbüttel agierenden Kämpfer speicherten deren gewalttätigen Hass für die Zeit nach dem Sieg, den sie erringen wollten.

Alfred Müller wurde in ähnlicher Weise wie seine Genossen gefoltert und nach Braunschweig transportiert. Fritz Liebold berichtete, er sei eine Stunde nach Fritz Fischer seinen Verletzungen erlegen.

Alfred Müller wurde am 26.3.1907 in Wolfenbüttel geboren. Er engagierte sich im kommunistischen Jugendverband und wurde Mitglied der KPD. In der Öffentlichkeit trat er nicht in Erscheinung. Deshalb wurde er 1932 mit der Aufgabe vertraut, die Tätigkeit der Partei auch für den Fall eines Verbotes weiterzuführen. Im Februar 1933 war er beim Verteilen von Flugblättern erwischt und vom Amtsgericht zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt worden.

In der AOK war Fritz Fischer mit Fritz Liebold in einem Raum eingesperrt. Er berichtete später: “Es mag wohl gegen 7.30 Uhr gewesen sein, als Fischer, welcher neben mir lag, einmal austreten wollte, aber hierzu aus eigener Kraft nicht mehr fähig war. Heise und ich nahmen dann Fischer unter die Arme und brachten ihn zur Toilette. Fischer war so schwach, daß ich ihm sein Geschlechtsteil herausnahm. Ich stellte beim Urinlassen fest, daß Fischer keinen Urin, sondern lauter Blut abließ. Ein Zeichen dafür, daß ihm seine Nieren abgeschlagen waren. Nach einer dreiviertel Stunde blickte ich zu Fischer hinüber und sah, dass er mich mit seinen Augen rief, näher zu kommen. Ich legte mein Ohr an seinen Mund. Seine Worte: Fritz, grüße mir mein Lieschen noch einmal und merke Dir, dieses ist wahrer Faschismus. Er verstarb.“ Die drei Männer seien in die Sowjetunion geflüchtet: Dieses Gerücht verbreiteten die Nazis. Das Einwohnermeldeamt registrierte damals: 6.7.1933, unbekannt verzogen.

Die drei Kommunisten traten ein für einen Kommunismus sowjetischer Prägung auch hier in Deutschland. Sie wussten nichts von dem grausamen stalinistischen Terror gegen eigene Bürger: Bauern Arbeiter und vor allem Bürgerliche. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass damals in der Sowjetunion wahllos immer wieder Menschen durch Massenerschießungen und andere Massaker ermordet worden sind.

Die Leichen der drei Männer wurden auf dem Gelände des Naturfreundehauses in Helmstedt verscharrt. Die sterblichen Überreste wurden am 1. Juni 1947 gefunden. Während einer Trauerkundgebung in Helmstedt herrschte in allen Betrieben Arbeitsruhe. In Braunschweig gedachte man der Nazi-Opfer vor dem Gebäude der AOK.

Am 20. Juni fand unter großer Beteiligung der Bevölkerung die Überführung der Särge nach Wolfenbüttel statt. Die Lokalzeitung berichtete: Die Einwohner-schaft der Heimatstadt der Ermordeten empfing ihre toten Söhne an der Stadtgrenze und gab ihnen bis zum Hauptfriedhof, auf dem die sterblichen Hüllen beigesetzt wurden, das Ehrengeleit. Auf dem Friedhof werden diese Gräber übrigens fälschlicherweise als "Kriegsgräber" bezeichnet. Mit den Weltkriegen haben sie nichts zu tun, aber mit dem Krieg gegen eigene Bürger - sechs Jahre vor Beginn des Krieges durchaus.

In seiner Trauerrede erinnerte Stadtdirektor Willi Mull an die verdienstvolle Arbeit, die sich Fritz Fischer als Mitglied der Stadtverordnetenversammlung erworben hatte: Offen und charakterfest, voller Menschlichkeit, das seien seine Wesenzüge gewesen.  Übers Grab hinaus gelobten die Vertreter der Gewerkschaften und Parteien den Toten ein ehrendes Gedenken und ihren Geist als Vorbild zu bewahren. Schon bald darauf wurde die Nordstraße in der Wolfenbütteler Auguststadt, dem Wohnquartier mehrer der Opfer und auch Fritz Fischers, in Fritz-Fischer-Straße umbenannt. Vor den Häusern von Perkampus und Fischer liegen seit zwei Jahren Stolpersteine.

Dieses Gelöbnis wird seit vielen Jahren alljährlich am 1. September am Gedenkstein auf dem Friedhof erfüllt. Ich erhoffe mir, dass nicht nur auf dem Friedhof, sondern auch hier am Haus ein Hinweis angebracht sein sollte, um dieses Gelöbnis des ehrenden Gedenkens auch am Ort des Mordes zu erfüllen. Ich würde mich freuen, wenn Sie dieses Vorhaben unterstützen würden - das ich bereits 2001 leider erfolglos geäußert habe.

Weitere Informationen finden Sie auf meiner Website: http://www.ns-spurensuche.de/

Vielen Dank für Ihr Kommen.

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