Braunschweig - die gesichtslose Stadt
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- Veröffentlicht: Freitag, 21. Februar 2014 14:02
- Geschrieben von Jörg Albrecht
Der folgende Beitrag erschien 1985 in Westermanns Monatshefte.
Wir bedanken uns herzlich bei Jörg Albrecht für die freundliche Genehmigung zur Wiederveröffentlichung dieses in weiten Teilen immer noch aktuellen Artikels.
Städte wandeln sich – nicht immer zum Guten. Der Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Braunschweig und Großprojekte danach machen deutlich: Wenn ohne Rücksicht auf die Geschichte geplant wird, nimmt die Identität einer Stadt Schaden. Was zwischen Flensburg und Garmisch in den letzten Jahrzehnten an städtebaulichen Sünden begangen wurde, tritt in der Stadt Heinrichs des Löwen krass zutage: Die Chance, klüger durchdachte, menschlichere Städte zu bauen, wurde selten genutzt. Doch Braunschweig ist nur ein Beispiel von vielen.
Ein ehemaliger Braunschweiger Wirtschaftsreferent ließ seine japanischen Gäste möglichst von Süden her in die Stadt anreisen. So konnte er den sensiblen Asiaten einen ästhetischen Schock ersparen, der sie am nördlichen Stadtrand erwartet hätte. Dort mündet die Hamburger Straße mit unerbittlicher Konsequenz in einem öden Verhau von Gleiskörpern, vierspurigen Straßen, heruntergekommenen Höfen und Parkflächen, das Ganze gekrönt von zwei Wohnblöcken derart niederschmetternder Architektur, dass Investoren, die sich daheim in der Kunst des Blumensteckens und der Teezeremonie üben, möglicherweise auf dem Absatz kehrtgemacht hätten.
Auswärtige, die das Schicksal nach Braunschweig verschlägt, betrachten diese Stadt oft mit einer gewissen Rat- und Sprachlosigkeit. Nachhaltiger als in anderen Städten vergleichbarer Größe – wie etwa Nürnberg, Kassel oder Kiel – zeigt sich hier die Hilflosigkeit, mit der Stadtplaner nach dem Krieg an den Wiederaufbau gingen.
Besucher der Ausstellung „Stadt im Wandel", denen in Braunschweig drei Monate lang die historischen Bürgerstädte Norddeutschlands präsentiert werden, sind gut beraten, Alexander Mitscherlichs Aufsätze über die „Unwirtlichkeit unserer Städte" im Hinterkopf zu behalten. Sie lesen sich wie eine Fallstudie zum heutigen Braunschweiger Stadtbild: „Irgendein versöhnliches Gefühl für die dem Goldrausch verwandte Bautätigkeit nach dem Krieg ist fehl am Platze", schrieb der Psychoanalytiker voller Zorn.
Dem Bürgertum, so Mitscherlichs nach wie vor gültiger Grundgedanke, gelang es nach der „patzigen Kleinbürgerei Hitlerscher Herkunft" und der Einebnung vieler jahrhundertealter Stadtgestalten durch die Alliierten nicht mehr als ein „schäbiger, zusammengestoppelter Wiederaufbau mit gelegentlicher Überschreitung eines landschaftsunabhängigen Minimalstandards". Im Sinne des klassizistischen Baumeisters Karl Friedrich Schinkel, der gefordert hatte: „Die Kunst ist überhaupt nichts, wenn sie nicht neu ist", habe die Stadtplanung gründlich versagt. An die Stelle lebendiger, den Geist ihrer Bewohner widerspiegelnder Stadtensembles sein ein gesichtsloses Konglomerat getreten – für Mitscherlich Beweis für den Niedergang des selbstbewussten „Citoyens": „Wenn Städte Selbstdarstellungen von Kollektiven sind, dann ist das, was uns hier an Selbstdarstellung begegnet, alarmierend".
Alarmiert zeigt sich in Braunschweig eigentlich niemand, obwohl (oder weil?) die Stadt auf Auswärtige wie ein Paradigma wildwüchsiger Wiederaufbau-Wurstelei im bundesdeutschen Nachkriegsdeutschland wirkt – ein amorpher städtebaulicher Brei, der nur von überdimensionierten Autobahnprojekten und breiten Verkehrsschneisen gegliedert wird.
Vor allem das zähe Ringen der Verkehrsplaner um immer größere Verkehrsflächen entwickelte in Braunschweig eine seltsame Eigendynamik, die offensichtlich durch keinerlei demokratische Einflüsse gebremst werden konnte. Bereits Johannes Göderitz, der erste Stadtbaurat der Nachkriegszeit, entwickelte das Konzept einer „Kerntangentenquadrates". Nun hatte Heinrich der Löwe mit der Stadtgründung im 12. Jahrhundert einen eher zwiebelförmigen Stadtgrundriss hinterlassen. Auch nach der Schleifung der alten Befestigungsmauern blieb das so: Der Baumeister Peter Joseph Krahe bettete die Stadt Anfang des 19. Jahrhunderts behutsam in einen Gürtel von Parkanlagen nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten ein.
Diese ehemaligen Wallanlagen gehören heute zum Schönsten, was die Stadt zu bieten hat. Zumindest da, wo sie noch existieren. Denn die Verkehrsplaner zweifelten nicht an ihrer quadratischen Idee. Wo die Stadtgestalt im Wege stand, rückten die Bulldozer an. Städtebaulich besonders empfindliche Punkte wurden besonders unsensibel behandelt.
Wer früher beispielsweise mit den Bahn nach Braunschweig reiste, kam in einem Bahnhofsgebäude von klassizistischer Schönheit an, dass Carl Theodor Ottmer 1834 nach Schinkelschem Vorbild entwarf. Nach wenigen Schritten stand er im Herzen einer lebendigen Stadt. Dies erschien den Verkehrsexperten wohl zu eng. Also entstand Mitte der 60er Jahre an der Peripherie ein Bahnhofsneubau, von dem die „Bauwelt" unlängst vermutete, „irgendein schöpferischer Bundesbahnoberbaurat habe ihn zwischen Horten und Stazione Termini definiert". Und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" notierte in ihrer Reihe „Deutsche Architektur nach 1945" verschreckt die Gefühle des Braunschweig-Besuchers: „Am liebsten möchte er sofort den Zug ins heimelige Frankfurt nehmen. Eine monumentale, massige Rampenanlage empfängt ihn und geleitet ihn zwischen den betonierten Brüstungen einer Fußgängerbrücke auf der andere Ufer einer überdimensioniert breiten, lauten, achtspurigen Straße. Hier erhebt sich, nach Höhen gestaffelt, ein Baukomplex, dessen Anblick besser als alle theoretischen Abhandlungen mit einem Schlage verständlich macht, weshalb die so genannte Moderne beinahe zwangsläufig in die Sackgasse geraten musste."
Zur sechsspurigen Sackgasse geriet auch die Anbindung des Bahnhofs an die Innenstadt. Sie wurde mit einem unübersichtlichen Verkehrverteiler abgeschlossen, dem ein früher differenziertes Straßen-, Platz- und Promenadengefüge Platz machen musste. Der Kunsthistoriker Reinhard Liess sah hier die „Grenze des Erträglichen" überschritten. Er notierte auch eine kleine Peinlichkeit am Rande, die allerdings nur der versteht, der weiß, dass der Braunschweiger Stadtrat 1960 mit einer Stimme Mehrheit und offensichtlich aus später Rache an den Welfen den Abriss des Braunschweiger Herzogschlosses durchsetzte, um an seiner Stelle ein Kaufhaus zu errichten, dessen Architektur sich jeder höflichen Beschreibung entzieht. Ausgerechnet den Welfenherzögen wurde an dieser Stelle ein Denkmal gesetzt. Liess: „Eine für Braunschweig charakteristische Stillosigkeit und Unsicherheit gegenüber der eigenen Residenzstadt-Tradition und der Geschichte überhaupt."
Ahnungslosigkeit im Umgang mit historischer Bausubstanz, so ließe sich einwenden, ist kein Spezifikum der Braunschweiger Stadtplanung. Das stimmt. Nur wurde nirgendwo in der Bundesrepublik ein intaktes Schlossgebäude abgerissen, gerade weil es so geschichtsträchtig war. Über den Schlossabriss herrscht heute in Braunschweig betretenes Schweigen. Er war, sollte man meinen, ein einmaliger Missgriff.
Nur bei genauerer Betrachtung der jüngsten Kreationen des Braunschweiger Stadtplanungsamtes schleichen sich leise Zweifel ein. Anfang letzten Jahres präsentierte die Behörde Überlegungen zur Verkehrslenkung am nördlichen Stadtausgang. Hier war eine Straßenbebauung entstanden, über deren Bedeutung der Braunschweiger Architekt Cord Machens urteilt: „Ein Blick auf die südliche Hauszeile reicht, um zu erkennen, dass hier Straße und Gebautes ein Ensemble bilden, das uns einen kurzen, aber wichtige Abschnitt der neueren Baugeschichte fast lehrhaft vor Augen führt. Die fraglichen Häuser sind alle zwischen 1911 und 1913 entstanden, und sie sind alle qualitätsvolle Beispiele einer vom englischen Landhaus, arts and crafts und dem Jugendstil beeinflussten Architektur." Offensichtlich fehlte den Stadtplanern die Zeit, einen Blick auf die Häuser zu werfen. Sie hatten anderes im Sinn und spielten statt dessen zahlreiche Varianten durch, darunter so exotische wie die Untertunnelung des benachbarten Gaußbergs und des Okerflusses. Die Favoritin erhielt den Namen „K1" und liest sich im Originalton so: „Der gesamte Verkehr wird zügig auf einer neu zu trassierenden Straße ... geführt. So entsteht ... eine übersichtliche Kreuzung aller Verkehrsrichtungen. Die großzügige Lösung nimmt die Beseitigung der südlichen Hauszeile Am Wendenwehr in Kauf. Sie schafft jedoch eine eindrucksvolle Stadteinfahrt mit einer Uferpromenade, die die Okerumflut, den grünen Wallring mit dem Gaußberg am anderen Ufer und den Platz mit den Torhäusern für alle Verkehrsteilnehmer erlebbar werden lässt."
Quadratisch, praktisch, radikal. Und wahrscheinlich sogar noch demokratisch gedacht, weil dann nicht mehr nur einige wenige privilegierte Anlieger Fluss und Parklandschaft genießen dürfen sondern auch das Auto fahrende Landvolk auf dem Weg zum Einkaufen. Unter dem kleinen Entrüstungssturm, der angesichts dieses nicht unbedingt subtilen Umgangs mit städtischer Bausubstanz losbrach, duckte sich die Verwaltung erst einmal weg; zumal die Lokalpolitiker den Plan wie eine heiße Kartoffel fallen ließen. Stadtbaurat Konrad Wieses nachträglicher Kommentar: „Wenn's ans Eingemachte geht, dann traut sich keiner mehr."
Ganz beerdigt wurde das Vorhaben aber nicht, wie überhaupt längst verschollen geglaubte Pläne immer mal wieder in alter Frische aus der Schublade gezogen werden. Dazu gehört ein Durchbruch am Museumspark in Richtung Helmstedt, wobei die jetzige Bebauung an der Helmstedter Straße einseitig flach gelegt würde. Für die Überdimensionierung so mancher Innenstadtstraße dient vollen Ernstes das Argument, die Tradition der alten Verbindung Köln-Königsberg sei schließlich auch historisch gewachsen.
Kaum eine Institution hat das Bild Braunschweigs in der Nachkriegszeit so nachhaltig geprägt wie die Braunschweiger Stadtwerke. Für einen reibungs- und kreuzungslosen Verkehr ihrer Stadtbahn würden sie vermutlich ihre Seele verkaufen. Praktisch in der gesamten Innenstadt ist es einem sportlichen Fußgänger nicht möglich, nur mal eben so die Straße zu überqueren. Gitterzäune und Metallabsperrungen, unterbrochen durch Ampelanlagen, hindern ihn daran. Vermutlich ist es die gleiche Mentalität, die jedes Stück unbebauten Bodens asphaltiert, Waschbetonkübel darauf stellt und mit Knollenbegonien bepflanzt, die zutiefst befriedigt wird von solchen geschotterten Gleiskörpern, abschreckenden Trennwänden und massiven Begrenzungen.
Gerechterweise muss hinzugefügt werden, dass es im neueren Stadtbild nicht nur Brutalitäten dieses Kalibers gibt. Es ist auch keineswegs so, dass alles im Provinziellen ertränke. Für ein Gutachten über die Gestaltung des zentralen Schlossparkbereiches gewann man 1976 immerhin den international ausgewiesenen Kölner Architekten Mathias Ungers, nachdem die Universität sich nicht dazu durchringen konnte, ihn auf einen Lehrstuhl zu berufen. Seine städtebauliche Studie enthält klare, saubere Bebauungsvorschläge, die – unter Bezug auf die Braunschweiger Geschichte – eine Art wuchtiger Eleganz zeigen. Nicht davon wird verwirklicht.
In Braunschweig hat sich eine eigenartige Mischung aus ästhetischer Hilflosigkeit und selbstsicherer Ignoranz entwickelt, die angesichts der Tatsache, dass hier eine nicht ganz unbedeutende Architekturfakultät zu Hause ist, verblüffend wirkt. Während die kalte, funktionelle, aber immerhin unprätentiöse Bauweise der 50er und 60er Jahre mit den Bauten von Friedrich-Wilhelm Kraemer, Dieter Oesterlen oder Heinz Röcke wenigstens noch zeitgemäßen Ausdruck fand, herrscht heute stilloses Abkupfern und falsch verstandenes Zitieren vor. Ein Blick auf die großen Bauprojekte der letzten Jahre zeigt das. Die wichtigste innerstädtische Baulücke wurde mit einem zweiteiligen Sammelsurium des schlechten Geschmacks und der Einfallslosigkeit geschlossen. Der eine Teil des mächtigen Baukomplexes wirkt zum Einschlafen langweilig, wird also seiner Funktion als Hotel sogar einigermaßen gerecht und unterscheidet sich in dieser Hinsicht noch positiv von seinem Zwillingsbruder. Dort thront klobig missratener sozialer Wohnungsbau über monumentalen Betonbrüstungen. Die beide Bauten verbindende Passage ist düster, der Eingang einladend wie ein Blechhaufen, symbolisch überhöht durch eine McDonalds-Filiale. Wegwerf-Architektur, vielleicht nur dadurch zu erklären, dass die Stadt so wahnsinnig froh über das Engagement des Investors war, dass sie das Gelände auch zu einem Wegwerfpreis an den Mann brachte.
Etwas ambitionierter als das Packhofprojekt ist der Umbau eines benachbarten Heimwerkermarktes angelegt. Dieser Anschluss Braunschweigs an die Postmoderne leidet allerdings unter allerlei funktionellen Undurchsichtigkeiten, die den Bau zu einem wahren Labyrinth machen.
Gravierender, weil im Zentrum der Landesausstellung „Stadt im Wandel" stehend, ist schließlich der Umbau des ehemaligen Viewegschen Verlagsgebäudes zum Landesmuseum. Der David Gilly zugeschriebene Bau wurde im Innern für 27 Millionen Mark entkernt; die vollständig erhaltene Treppenanlage fiel die Spitzhacke zum Opfer. Da half auch der Protest von rund 200 Denkmalpflegern, Kunst- und Bauhistorikern aus dem In- und Ausland herzlich wenig. Und so findet sich auch exakt an der Stelle, an der die Stadt ihre ruhmreiche Tradition präsentieren will, ein Beispiel für die Unfähigkeit, in historischen Zusammenhängen zu denken.
Anmerkung: Die Fotos aus dem Original-Artikel von 1985 wurden durch neue Fotos der Motive ersetzt. Geändert hat sich nur wenig.