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"Das wird keine Fassade für ein Einkaufscenter, das wird ein richtiges Schloss" (1. Folge)

Zum Missbrauch des lokalen Pressemonopols der Braunschweiger Zeitung am Beispiel ihrer Berichterstattung zum sogenannten "Wiederaufbau des Schlosses"

Vorwort

Ungefähr 3 Monate ist es her, dass die Braunschweiger Zeitung (BZ) von ihrem Chefredakteur Paul-Josef Raue zur Bürgerzeitung erklärt wurde. In diesem Zusammenhang war die Rede von unserer Demokratie, und es war die Rede davon, dass alle -auch die unbequemen Geister- zu Wort kommen sollten. „Unsere Zeitung setzt sich dafür ein, dass [...] eine wirkungsvolle Kontrolle der Mächtigen garantiert ist“ so das Credo des Chefredakteurs in seinem an alle Bürgerinnen und Bürger unser Region adressierten Brief, in dem weiter zu lesen war: „Unsere Zeitung ist ständig bemüht, nicht nur die Leser ständig auf dem Laufenden zu halten, was in der Region passiert, sondern auch aufzudecken, was andere vertuschen wollen.“

Raue, Mitverfasser eines Standardwerkes über Journalismus, ist sich offensichtlich der Verantwortung bewußt ist, die seine sich „unabhängig - nicht parteigebunden“ nennende Zeitung für die politische Kultur Braunschweigs hat. Die BZ ist die einzige Tageszeitung dieser Stadt. Sie besitzt damit ein Quasi-Monopol für die Lokalberichterstattung. Für die Mehrheit der Braunschweiger Bevölkerung stellt sich die Stadt so dar, wie sie in der BZ beschrieben wird.

Um so schwerer wiegen die Bedenken, dass die Berichterstattung der BZ vielleicht doch nicht so vorbehaltlos der ganzen Wahrheit und der Kontrolle der Mächtigen verpflichtet ist, wie es Raue für seine Zeitung reklamiert. Schon im Jahr 2003 war in der FAZ im Zusammenhang mit der BZ von ’Hofberichterstattung’ für den Braunschweiger Oberbürgermeister Dr. Hoffmann die Rede. Eine einseitige Berichterstattung wird von vielen seit langem kritisiert.

Bislang machte sich die Kritik schlaglichtartig an einzelnen BZ-Artikeln oder kleineren Artikelfolgen fest. Es fehlte ein überblick über mehrere Jahre Berichterstattung der BZ zu einem zentralen Thema der Lokalpolitik, der verdeutlichen könnte, dass es sich bei den monierten Artikeln weder um einseitig herausgegriffene Beispiele einer insgesamt ausgewogenen Berichterstattung noch um vereinzelte Ausrutscher handelt, sondern um Musterbeispiele eines systematisch betriebenen Tendenz-Journalismus. Mit der vorliegenden Dokumentation und Analyse soll ein solcher überblick gegeben werden.

Untersucht wird darin die Berichterstattung der BZ in den Jahren 2004 bis 2006 über die so genannte ‚Rekonstruktion des Braunschweiger Residenzschlosses’, sowie Aussagen und Verlautbarungen seitens der Stadtverwaltung zum gleichen Thema. Die Untersuchung kann sich auf mehrere Hundert Artikel der BZ stützen. Eine repräsentative, alle wesentlichen Artikel berücksichtigende Auswahl wird im Folgenden vorgestellt, kommentiert und in das politische Umfeld eingeordnet.

Die Berichterstattung der BZ zum Thema "Schloss" bietet sich als Betrachtungsgegenstand aus folgenden Gründen an:
- Zum einen war die Frage, wieweit das alte Ottmer-Schloss im Zuge des ECE-Centers wiederaufgebaut würde (nur eine Fassade oder das ganze Schloss?) über Jahre hinweg ein zentrales und von der Bürgerschaft der Stadt z.T. hochemotional verfolgtes lokalpolitisches Thema.
- Zum anderen konnte sich der durchschnittliche Braunschweiger zu dieser Frage bis zur Eröffnung des Centers selbst kein eigenes Bild machen und war auf die Broschüren der Stadtverwaltung und die Artikel der quasi monopolen BZ angewiesen. Die Stadtverwaltung aber wollte in diesem Fall vertuschen, dass über die 3 Hauptfassaden hinaus kaum etwas vom alten Ottmer-Schloss nachgebildet werden sollte, und nährte in ihren Veröffentlichungen die Hoffnung auf ein ganzen Schlosses, um so das ECE-Center populär zu machen.

Hier fiel der BZ also eine besondere Verantwortung zu: "Aufdecken, was andere vertuschen wollen". Das dazu nötige Faktenwissen konnten sich ihre Redakteure über Einblick in die Ratsunterlagen ab spätestens Mitte 2004 ohne weiteres verschaffen.Wie die BZ mit dieser Verantwortung umging, wie sie nicht nur das Aufdecken unterlies, sondern im Gegenteil mit ihrer Berichterstattung über die ‚Schloss-Rekonstruktion’ in enger Tuchfühlung mit der Stadtverwaltung systematisch und mit lückenloser Konsequenz die Irreführung ihrer Leser betrieb, ist in der folgenden Dokumentation nachgezeichnet.

Deutlich werden dabei die Mittel, derer sich die BZ bedient, wenn sie mit ihren Artikeln beim Leser einen nicht den Tatsachen entsprechenden Eindruck zu erwecken will, ohne deshalb in einem fort vom Presserat gerügt zu werden. Diese Mittel, wie z.B.
- das Verschweigen entscheidender Tatsachen
- Begriffsbildungen, die dem üblichen Sprachgebrauch spotten
- unlautere Zitiermethoden,
ergeben zusammen einen eigentümlichen Stil, den man -einmal auf ihn aufmerksam geworden- mit etwas Hintergrundwissen auch in den laufenden Ausgaben der BZ unschwer wiedererkennen wird. Auch wenn die im folgenden untersuchte ‚Schloss'-Berichterstattung schon einige Zeit zurückliegt, wirken schließlich die Redakteure der BZ, die für die ‚Schloss’-Berichterstattung verantwortlich zeichnen, in denselben Positionen und in gleicher journalistischer Grundhaltung wie damals weiter.


„Das wird keine Fassade für ein Einkaufscenter, das wird ein richtiges Schloss“ - Dokumentation und Analyse der Berichterstattung der Braunschweiger Zeitung in den Jahren 2004 bis 2006 zum so genannten "Wiederaufbau des Schlosses".

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

B. Das politische Umfeld

C. Die Berichterstattung der BZ

Zur Berichterstattung der BZ im Einzelnen:

1. Vorgeplänkel: Der „wiederaufgebaute Ottmer-Prachtbau“
(einige Artikel vor dem 20.4.04)

2. „Das wird keine Fassade für ein Einkaufscenter, das wird ein richtiges Schloss“
Die Architekten-Artikel von R-H. Meyer vom 20.4 und vom 5.6.04

3. „Schloss als ‚kulturelle Hochstapelei’?“
Ein Bericht über die ECE-Kritiker vom 10.5.04

4. „Beim alten Schloss war das der Durchgang zum Schloss-Innenhof.“
Die Veröffentlichung der Pläne der ‚Schloss’-Nutzung am 10.6.04 und am 15.6.04

5. „Gericht: Schloss in Braunschweig darf gebaut werden“
Sonstige Artikel der BZ bis zum 10.3.05

6. „Der Schloss-Teil hat im Grundriss genau jene Maße des früheren Residenzschlosses.“
Die Reaktionen auf die Presseratsrüge vom 8. März 05

7. „Historisch nicht wertvoll“ –ein Interview im Gefolge der Presseratsrüge

8. „Die Rekonstruktion des 1960 abgerissenen Residenzschlosses beginnt.“
Das Ende der Schamfrist

9. „’Wir bauen dort tatsächlich mit der Schlossrekonstruktion das alte Schloss [...] original 1:1 wieder auf.’“ -Auf dem Weg zur Wiederwahl von Dr.Gert Hoffmann.

10. Epilog

D. Resumee

 

A. Einleitung

Es wird vorher auf den Tisch gelegt, was möglich ist, damit es am Ende keine Enttäuschung gibt. Das Projekt wird keine Mogelpackung", meint Stadtbaurat Zwafelink angesichts der Sehnsüchte, mit denen die Pläne behaftet sind. Um falschen Erwartungen entgegenzuwirken, werde es mit den Braunschweiger Bürgern und der hiesigen Fachwelt eine intensive ehrliche Auseinandersetzung über die Gestaltung geben. (Braunschweiger Zeitung vom 23. Januar 2003 über Stadtbaurat Zwafelink zum ECE-Projekt)

Es ist natürlich nicht das alte Schloss. Das weiß doch jeder. Weder ist es komplett aufgebaut noch wohnt der Herzog drin. Es ist der Aufbau der Schlossfassade und das ist dann das Schloss. Und das andere ist die Schloss-Arkade.

 

 

Mit dieser Äußerung gab dann der Braunschweiger OB Dr. Gert Hoffmann kurz nach der Eröffnung der "Schloss-Arkaden" in der Sendung "Das Shopping-Schloss“ im NDR am 1.April 2007 indirekt einem Braunschweiger Bauhistoriker Antwort, der den Umstand, dass da nur eine Fassade rekonstruiert worden ist, für besonders erwähnenswert gehalten hatte.

Der Braunschweiger Fernsehzuschauer wird ob dieser Freimütigkeit des Oberbürgermeisters seinen Ohren nicht getraut haben. Hatte der OB bis dato nicht immer Gegenteiliges betont? Ein halbes Jahr zuvor erst, kurz vor der Kommunalwahl, war er doch in der BZ wie folgt zu Wort gekommen:

Ich empfehle eine Baustellenbesichtigung, dann sieht man, dass das nicht nur eine bloße Fassade ist. Wir bauen dort tatsächlich mit der Schlossrekonstruktion das alte Schloss unter Verwendung alter Bauteile und hochwertigen Sandsteins original 1:1 wieder auf.

Und hatte nicht die BZ in ihrer eigenen Berichterstattung über Jahre genau in diesem Sinne berichtet, so dass diese Worte des OBs dem treuen Leser der BZ selbstverständlich glaubwürdig erscheinen musste?

Wenig hat große Teile der Braunschweiger Bevölkerung so erzürnt wie diese gemeinschaftliche, irreführende Propaganda von Spitzen der Stadtverwaltung und BZ in den Jahren 2004 bis 2006 zum Bau des "Schloss-Arkaden" genannten ECE-Centers, oder -wie Pressestelle der Stadt und BZ behaupten würden- zur Rekonstruktion des Braunschweiger Residenzschlosses. Presseratsbeschwerden führten schließlich zur schärfstmöglichen Sanktion des Presserates gegen die BZ: zur öffentlichen Rüge.

Die BZ versuchte, das Problem ihrer Berichterstattung auf die Verwendung des Begriffs „Schloss“ zurückzuführen. So gab Chefredakteur Raue einem Artikel „’Schloss’ und der Kampf um Wörter“ (29.12.06), mit dem die BZ einen Schlusspunkt unter die Diskussion über ihre Berichterstattung zum "Schloss"-Thema setzen wollte, folgende Einleitung:

Am Anfang waren wir Redakteure arglos, wenn nicht sogar leichtfertig. Denn wir müssen eigentlich wissen, dass Worte eine Wirkung, erst recht eine politische Wirkung haben müssen, selbst harmlose Worte wie "Schloss"

Lag der Empörung über die BZ-Berichterstattung also tatsächlich nur ein semantisches Problem zu Grunde? War es pure Wortklauberei, sich über die BZ und ihre Berichte zum "Schloss" * aufzuregen?


B. Das politische Umfeld

Lokalberichterstattung findet nicht in einem interesselosen Vakuum statt. Um die BZ- Berichterstattung zum ECE- und ‚Schloss’-Thema angemessen würdigen zu können, sei daher -ehe die Artikel der BZ vorgestellt werden- zunächst ein Blick auf das lokalpolitische Umfeld geworfen.

Seit Sommer 2002 war in Braunschweig die Rede von einem geplanten ECE-Einkaufszentrum im Schlosspark, der von diesem Center vollständig überbaut werden sollte. Das ECE-Projekt nahm spätestens in der zweiten Jahreshälfte 2003 konkretere Formen an. Geplant war ein Einkaufszentrum inklusive einer vorgehängten Rekonstruktion der dreigeschossig untergliederten Schlossfassade des alten Residenzschlosses, hinter der ein vier- bis fünfstöckiger profaner moderner Stahlskelettbau errichtet werden sollte. Die Stadtverwaltung teilte zu dieser Zeit noch durchaus zutreffend mit, dass es sich bei dem später „Schloss“ genannten Teil des ECE unter sachlicher Betrachtung [...] um ein zeitgenössisches Bauwerk, erstellt in zeitgenössischer Bautechnik mit [...] Fassaden, die im Material und der Struktur dem Vorgängerbau entsprechen, handeln würde.**

Den Architektenwettbewerb für die Fassadenverkleidung des ECE nahm die Stadtverwaltung zum Anlass, in ihrer Darstellung des ECE-Projekts einen entscheidenden Umschwung zu vollziehen. Bei der Vorstellung des Siegerentwurfes des Architekturbüros Grazioli & Muthesius im Dezember 2003 erklärte man, dass dieser nicht nur die Rekonstruktion der Schlossfassade vorsehe, sondern die Rekonstruktion des Schlosses. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass im Zuge des Wettbewerbs diesbezüglich objektiv wesentliches entschieden wurde. Ein deutliches Indiz dafür ist der Flyer "Chancen für Braunschweig", der vor der Entscheidung des Wettbewerbs veröffentlicht wurde und in dem bereits von einer "annähernden Volumenrekonstruktion" des Ottmer-Schlosses die Rede ist. Mehr war auch nach dem Wettbewerb nie in Erwägung gezogen worden. Es ist nur mehr behauptet worden. über die Gründe, warum die Fabel von der Schlossrekonstruktion zeitgleich mit der Verkündung des Wettbewerbsergebnisses verbreitet wurde, kann nur spekuliert werden. Mag sein, dass bereits in den Wettbewerbsunterlagen entsprechendes vorgebracht wurde, um überhaupt hochkarätige Teilnehmer für den Architektenwettbewerb zu gewinnen. Jedenfalls ist die Jury des Architektenwettbewerbs -wenn man der BZ in diesem Punkt Glauben schenken darf- bereits von einem "historischen Wiederaufbau" des Schlosses ausgegangen.***

Mag sein, dass man diese Gelegenheit beim Schopfe packte, um die gleiche Mär auch der Bevölkerung zu erzählen.

Von der Notwendigkeit, das ECE-Projekt der Bevölkerung, in der sich massive Widerstände ankündigten, auf diese Weise schmackhaft zu machen, hatte OB Hoffmann bereits am 25.6.03 gesprochen, als er vor der kaufmännischen Union argumentierte, dass das ECE-Projekt ohne das Versprechen, das ehemalige Residenzschloss wieder aufzubauen, in Braunschweig nicht durchsetzbar wäre. (Der 1960 erfolgte Abriss der kriegsversehrten Ruine ist von vielen Braunschweigern nie verwunden worden.) Also wurde von der Stadtverwaltung der Wiederaufbau des Schlosses versprochen.

Verfolgen lässt sich dieser propagandistische Schwenk anhand von Flyern der Stadt. Hieß es im bereits erwähnten Flyer "Chancen für Braunschweig / Eine Information zum Bebauungsplan IN 220 'Einkaufszentrum Schlosspark'“ vom September 2003 noch, dass die Rekonstruktion der Schlossfassade und Wiederherstellung des Schlossbaukörpers in nahezu authentischen Ausmaßen geplant sei, wurde das gleiche Vorhaben in der textlich ansonsten weitgehend unveränderten Nachauflage des Flyers, der nun jedoch euphemistisch „Braunschweig im Aufwind / Eine Information zur Neugestaltung der historischen Mitte“ hieß, angepriesen als Rekonstruktion des Schlosses und Wiederherstellung in authentischen Ausmaßen, Details und Materialien. (Hervorhebungen vom Verfasser)

 

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Beredtes Zeugnis dafür, wie die Verwaltung nun das Projekt verstanden wissen wollte, legt die im Frühjahr 2004 verfasste Kulturhauptstadtbewerbung ab, für die die Leiterin des städtischen Kulturamtes, Anja Hesse, verantwortlich zeichnete.**** Herzstück des ECE-Projektes -so ist in dieser Bewerbung zu lesen- sei die Rekonstruktion des alten Welfenschlosses. Grosse Teile des ehemaligen Residenzschlosses würden rekonstruiert. Weiter wurde in der Bewerbungsschrift behauptet:

Die Stadt wird nunmehr die Räume des auf drei Seiten original rekonstruierten Welfenschlosses übernehmen.

Die originale Rekonstruktion nach Raum, Lage, Umriss, Volumen und Material wird den Vorwurf der "Attrappe" widerlegen.


Die authentische Umsetzung des Vorhabens veranschaulicht Geschichte auf eine überzeugende Weise.

Wie ein Leitmotiv gab diese Bewerbungsschrift nach Stil und Inhalt die Melodie vor, die seither aus dem Rathaus tönte.

Deutlich ist die Absicht zur Irreführung in den unscharfen Aussagen der Kulturhauptstadtbewerbung, die nur allzu leicht missverstanden werden können. Warum sonst wird nicht erwähnt, dass mit Ausnahme der drei Fassaden und Teilen der Dachlandschaft so gut wie nichts rekonstruiert werden würde? Warum sonst nennt man die von drei Fassadenseiten des alten Schlosses umgebenen Räume das Herzstück des Projektes, obwohl sie sowohl dem Volumen als auch der Investitionssumme nach eine Marginalie des ECE-Projektes sind und selbst die Länge der drei Fassaden von den restlichen Fassaden des Centers um ein Vielfaches übertroffen wird? Warum wurde nicht einmal angedeutet, dass die ECE bereits den Eingangsbereich hinter dem Portikus für ihr Kaufhaus reserviert hatte? In einem offiziellen Interview, auf das man von der Internetversion der Kulturhauptstadtbewerbung der Stadt Braunschweig aus verwiesen wurde, erklärte OB Hoffmann wahrheitswidrig sogar ausdrücklich: Abgesehen davon, dass das Schloss eben nicht Kommerz beherbergen wird, [...]

Und warum sonst fand in der Bewerbung keine Erwähnung, dass in den unteren 2 Stockwerken und dem Basement von einem gegenüber dem restlichen Center abgrenzbaren Baukörper ‚Schloss’ nicht die Rede sein kann? Die in der Bewerbung vorgetragene, dem scheinbar widersprechende Behauptung, dass ein Baukörper mit dem Originalvolumen des Ottmer-Schlosses geschaffen würde, zeugt dagegen von einer eher phantasievollen Sicht der Welt: Das "Originalvolumen" in den unteren zwei Geschossen ist Resultat eines rein definitorischen Aktes. Eine imaginäre Grenze, die dem Verlauf der Ottmer-Schloss-Rückseite ohne Rotunde entspricht, wird quer durch die Verkaufsräume des ECE gezogen und zur Trennlinie zwischen zwei Gebäuden erklärt: diesseits rekonstruiertes Schloss, jenseits modernes Einkaufszentrum. Und schon läßt sich aus der Masse des ECE-Centers ein Bauvolumen herausschälen, das dem Volumen nach dem alten Ottmer-Schloss entspricht.

Auf den Punkt bringen lässt sich die Desinformationsstrategie der Stadtverwaltung in den Jahren 2004 –2006 nach dem in der Kulturhauptstadtbewerbung erstmals gefundenen Muster wie folgt:

- wahrheitswidrig behaupten, dass ein eigenständiger Baukörper ‚Schloss’ mit dem Volumen des Ottmer-Schlosses geplant sei.
- wahrheitswidrig suggerieren, dass das ‚Schloss’ nur kulturell genutzt werde und jedenfalls der Bereich direkt hinter dem Portikus nicht vollständig kommerzialisiert werde.
- darüber hinaus mittels konsequent unscharfer Formulierungen diffuse Erwartungen über den beabsichtigten Wiederaufbau schüren, die weit über das hinausgehen, was tatsächlich rekonstruiert werden soll.

Es ist kein Zufall, dass die Stadtverwaltung diese Prioritäten in der Irreführung setzte. Die Braunschweiger sollten glauben, dass im Rahmen des ECE-Projektes das Ottmer-Schloss rekonstruiert würde - und nicht nur dessen Fassaden. Eine Schloss-Rekonstruktion ohne entsprechenden Baukörper wäre aber auch dem gutgläubigsten Braunschweiger nicht als solche zu vermitteln gewesen. Und ein Schloss, das direkt hinter dem Portikus, der auch dem Laien ohne weiteres als der herrschaftliche Eingang erkennbar ist, kommerziell genutzt würde, wäre in wesentlichen Teilen zu einem Kaufhaus degradiert – eine peinliche und abschreckende Vorstellung.

Die so in die Welt gesetzte Original-Residenz-Schloss-Fama wurde von der Stadtverwaltung im großen und ganzen drei Jahre lang aufrechterhalten:

- zunächst, um der Bevölkerung das ECE-Projekt schmackhaft zu machen, in der es starke Widerstände gegen das Projekt gab. So sammelte das Bürgerbegehren zur Erhaltung des Schlossparks 30 000 Unterstützerunterschriften. Nicht umsonst ist gerade an dem Tag, als die Protest-Demonstration gegen die wenige Tage zuvor erfolgte überfallartige Abholzung des Schlossparks stattfinden sollte, in der BZ eine doppelseitige von ECE finanzierte Anzeige unter der riesigen überschrift „DAS SCHLOSS KOMMT WIEDER“ erschienen, in dem der Oberbürgermeister den Leitartikel schrieb.*****

- später dann, um die Wiederwahl von OB Hoffmann abzusichern.

alt

Der OB selbst äußerte sich nach der Wahl im September 2006, dass seine Wiederwahl eine Volksabstimmung über das ‚Schloss’ gewesen sei. Wie der OB die Schloss-Legende ohne alle Rücksicht auf die Wahrheit dazu benutzte, Wählerstimmen zu gewinnen, verdeutlicht seine bereits erwähnte Replik auf die zutreffende Vorhaltung seines Herausforderers, dass nur die Fassade des Schlosses rekonstruiert würde:

Ich empfehle eine Baustellenbesichtigung, dann sieht man, dass das nicht nur eine bloße Fassade ist. Wir bauen dort tatsächlich mit der Schlossrekonstruktion das alte Schloss [...] original 1:1 wieder auf.

Welch eine Vorlage also für eine sich "unabhängig" nennende Lokalpresse! Eine Stadtverwaltung, die durch Schönrednerei und gezielte Irreführung der Bevölkerung das gleiche Gebäude, das sie intern geschäftsmäßig als Stahlbetonbau mit Schlossfassade beschreibt, mit einem Mal als komplette Schlossrekonstruktion verkaufen will, um zunächst ein Einkaufszentrum durchzusetzen und dann dem Oberbürgermeister die Wiederwahl zu sichern.

Die Pläne über das, was tatsächlich gebaut werden sollte, waren seit Mitte 2004 auch den Redakteuren der BZ zugänglich. Ein gefundenes Fressen für eine Zeitung, der einzigen Tageszeitung vor Ort, die Braunschweiger darüber aufzuklären – sollte man meinen ...

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* Zum Sprachgebrauch:
Mit dem Wort "Schloss“ in Gänsefüßchen wird hier und im Folgenden der südwestliche Gebäudeteil des ECE-Centers bezeichnet, der von Stadtverwaltung und BZ "wiederaufgebautes Braunschweiger Residenzschloss“ genannt wird. Dieses Vorgehen erscheint ratsam, um Sprachverwirrung zu vermeiden und auf einfache Weise das im Krieg zerstörte Ottmer-Schloss vom neuen "Schloss"-Bau zu unterscheiden.

** So zu lesen in der Antwort der Verwaltung auf Frage 5 der Eingabe 163 zum Bebauungsplan IN 220.

*** Im BZ-Artikel „Schloss soll nur kulturell genutzt werden“ vom 3.12.03 wurde zunächst davon berichtet, dass CDU und FDP forderten, dass im ‚Schloss’ nur Kultur untergebracht werden soll. Es folgt der Satz: „Damit wird dem Wunsch der Jury entsprochen, die der die Trennung des modernen, kommerziellen Raumes und des historischen Wiederaufbaus dringend empfahl.“ Die Jury verstand unter ‚historischen Wiederaufbau’ also offensichtlich mehr als eine Fassadenrekonstruktion, da ihre Forderung nach Trennung von kommerziellen Raum und historischem Wiederaufbau andernfalls sinnlos wäre.

**** Darauf angesprochen und um Erklärungen gebeten, wies Frau Hesse jede inhaltliche Verantwortung für das "Schloss"-Kapitel der Kulturhauptstadtbewerbung von sich, mit der Erklärung, dass sie keine Bauhistorikerin wäre und nur Satzbausteine der Verwaltung zusammengesetzt hätte.

***** Die BZ war zu diesem Zeitpunkt wegen einer zwei Monate zuvor erfolgten Presseratsrüge in dieser Sache in ihrer Aktionsfreiheit eingeschränkt und vermied für eine gewisse Zeit des Wort „Schloss“. Das ist wohl eine Erklärung dafür, warum die BZ den OB ausgerechnet in dieser heiklen Situation nicht mit einem redaktionellen Beitrag unterstützte und stattdessen die ECE für den OB mit einer doppelseitigen Anzeige in die Bresche sprang.

(Fortsetzung folgt)

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