Privatisierungspolitik im Blindflug

KPMG, eine Beratungsgesellschaft, die jahrelang für die Stadt Braunschweig die Privatisierung städtischer Firmen und Einrichtungen begleitete, hat eine Methode ersonnen, mit der sich der Verkaufswert von Unternehmen rechnerisch halbieren lässt, und wendet diese auch an. Doch das scheint kaum jemanden zu stören.

2002 verkaufte die Stadt Braunschweig 74,9% der Braunschweiger Versorgungs-AG (BS|Energy) an das amerikanische Unternehmen TXU (Weiterverkauf 2006 an Veolia).

Im Jahr 2009 beauftragte die Stadt Braunschweig die Beratungsgesellschaft KPMG zu prüfen, ob der 7 Jahre zurückliegende Deal für die Stadt Braunschweig von Vorteil oder von Nachteil war.

Die Betriebswirtschaftler und Finanzmathematiker kenne dafür eine etablierte und plausible Methode: Um zukünftige (entgangene) Gewinne und gegenwärtige Einnahmen (aus dem Verkauf) miteinander zu vergleichen, wird der sogenannte Barwert berechnet. Der Barwert eines Unternehmens beantwortet die Frage, bei welchem Kaufpreis der Verkauf langfristig die bessere Entscheidung ist. (Wie ein Fußballspieler den Barwert als Entscheidungshilfe nutzen kann, zeigt dieses Video.)

In dem 20.000 EUR teuren Gutachten, das die Stadt dann Anfang 2010 ins Netz stellte (inzwischen gelöscht – der Grund wird sich Ihnen nach dieser Lektüre erschließen), errechnet die KPMG weder den Barwert, noch geht sie nach einer anderen bekannten Methode vor. Warum nicht?

KPMG begleitete die Privatisierung und die Stadt Braunschweig war ein guter Kunde bei KPMG. Das Gutachten sollte also attestieren, dass die Privatisierung für Braunschweig von Vorteil war.

Das Problem: Mit der Berechnung des Barwerts gelingt dies nicht. Auch wenn die Berechnung von verschiedenen Eingangsgrößen wie Zinsatz und erwarteten Einnahmen abhängt; solange diese einigermaßen realitätsnah gewählt werden, führt die Rechnung dazu, dass die Stadt bei der Privatisierung verliert.

Die Berater von KPMG lösen das Problem kreativ. Sie lassen bewährte Methoden beseite und denken sich etwas gänzlich Neues aus. Ihr Gutachten fusst auf der Berechnung eines "kalkulatorischen Gesamtverschuldungsstandes". Eine in der Fachwelt vollkommen unbekannte Kenngröße, im gesamten Internet gibt es keinerlei Hinweise auf die Bedeutung dieses Wortungetüms. Es wurde augenscheinlich für das Braunschweiger Gutachten erfunden. Denn im Falle der Privatisierung ist dieser "kalkulatorische Gesamtverschuldungsstands" niedriger als im Falle der Nicht-Privatisierung und das Gutachten kann damit zu dem gewünschten Schluss kommen: Die Privatisierung sei ein voller Erfolg.

KPMG hätte ihre Kenngröße auch "Simsalabim" nennen können. An der Aussagekraft des Gutachtens hätte dies nichts geändert. Vielleicht aber wären dann Zweifel an der Seriösität der Berechnung aufgekommen. So jedoch nimmt kaum jemand Anstoß an dem Erfindungsreichtum der KPMG, wie der Erfahrungsbericht von Matthias Witte zeigt.

Matthias Witte deckte den Trick der KPMG auf und war überzeugt, damit ein gefundenes Fressen für die privatisierungskritischen Betriebswirte, die Parteien und die Presse zu liefern. Nach drei Jahren, in denen er wiederholt Parteien, Presse und Fachleute informierte, ist sein Fazit:

"Opportunismus, Angst und fachliche Hilflosigkeit an allen entscheidenden Stellen verhinderten bisher jede angemessene Rezeption dieses Skandals. Jeder befragte Mathematiker bestätigte die Doppelrechnung im Gutachten. In drei Jahren fand sich jedoch trotz intensiver Suche kein Betriebswirt, der gleiches getan hätte. Zu einem nicht geringen Teil waren die befragten Betriebswirte heillos überfordert, das vom Gedankenkonstrukt her simple Gutachten auch nur im Grundsatz zu verstehen. An ein kritisches Hinterfragen war gar nicht zu denken. Zum anderen war da die Angst vor KPMG, mit weltweit 150 000 Mitarbeitern in den Vorzimmern der Macht, die einige Male auch explizit gemacht wurde. Auch öffentlich gegen Privatisierungen auftretende Betriebswirte sagten, dass sie keinesfalls KPMG unlautere Absichten unterstellen würden.

Betriebswirte gelten jedoch als die Koryphäen, ohne die sich kein Journalist traut, KPMG einer Gutachtenfälschung zu bezichtigen. Die Angst vor KPMG war auch hier überall spürbar.

Auch die Linken und Grünen in Braunschweig konnten auf keinerlei Fachleute zurückgreifen und trauten sich ohne Rückendeckung nicht zu, etwas zu unternehmen. Die SPD, die sich in aufklärerischer und kapitalismuskritischer Pose gefällt, hätte durch ihre schiere Masse eine Schlüsselstellung in der politischen Aufarbeitung dieses Skandals einnehmen können. Sie setzte aber durch konsequente Hinhaltetaktik alles daran, dass eben dieser Skandal nicht öffentlich wird. "

 

Der vollständige Bericht von Matthias Witte: Politik im Blindflug

(Der Artikel erschien leicht gekürzt in der September-Ausgabe der Umweltzeitung)