Interview mit dem Verkehrsexperten Roland Sellien: Die Stadt kann was tun, sie muss nur wirklich wollen
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- Veröffentlicht: Freitag, 09. März 2012 10:25
- Geschrieben von Roland Sellien und Uwe Meier
Der Braunschweig-Spiegel sprach mit dem weit über Braunschweigs Grenzen hinaus bekannten Verkehrsexperten Roland Sellien. Die Fragen stellte B-S-Redakteur Uwe Meier.
Frage: In der neuen Ausgabe März/April 2012 der Umweltzeitung schreiben Sie einen fundierten Beitrag über die Verkehrssituation. Ist der ICE-Haltepunkt Braunschweig in Gefahr?
Sellien: Ja. Ob der ICE-Abschnitt Berlin – Braunschweig – Frankfurt(M) komplett wegfällt, nur zeitweise, also beispielsweise nur noch ein 2h-Takt, oder auf einen IC umgestellt wird, kann zum derzeitigen Zeitpunkt allerdings noch nicht gesagt werden.
Was ist der Grund dafür?
Sellien: Derzeit wird zwischen Erfurt und Halle/Leipzig eine Hochgeschwindigkeitsstrecke gebaut. Diese wird es ermöglichen, dass die Verbindung Berlin – Erfurt - Frankfurt(M) schneller sein wird, als über Braunschweig. Damit werden der Braunschweiger-Linie massiv Fahrgäste entzogen. Auch wenn in Braunschweig und Hildesheim derzeit relativ viele Fahrgäste ein- und aussteigen, reicht es nicht, eine ICE-Linie wirtschaftlich auszulasten. Man beachte beispielsweise die Lücken um 6:58 Uhr nach Frankfurt(M) und um 18:13 Uhr ab Frankfurt(M). Da muss bereits heute über Hannover gefahren werden.
Wer von Kassel oder Göttingen nach Berlin will, der kann dann über Hannover fahren, vielleicht sogar mit einer umsteigefreien Linie. Bereits heute wird die Relation Berlin – Hannover – Frankfurt(M) mit durchgehenden Zügen bedient.
Und für Fahrten in die Bundeshauptstadt, heißt es für Braunschweig möglicherweise „Umsteigen“: Wolfsburg wird für Braunschweiger Bahnreisende der neue wichtige Bahnhof.
Kann die Stadt was für den Erhalt des ICE-Haltes tun?
Sellien: Ja. Es muss aber wirklich gewollt sein und darf keine Alibi-Veranstaltung für die Öffentlichkeit sein. In ihrem Bereich als Aufgabenträger für den Bereich der Stadt Brauschweig kann sie die Anschlüsse ins Stadtgebiet verbessern. Als Mitglied im Zweckverband Großraum Braunschweig muss sie dafür sorgen, dass der Regionalverkehr professionell gemanagt und richtig fahrgastfreundlich abgestimmt wird, so dass mehr Fahrgäste den Öffentlichen Verkehr nutzen. Dazu reicht es nicht, nur einfach die Fahrzeuge zu erneuern oder hier und da einen Zug mehr fahren zu lassen.
Dann muss sie mit der gesamten Region, mit Hildesheim und auch über das Land Niedersachsen entsprechend Aktivitäten unternehmen. Sie muss sich Verbündete suchen, denn nur gemeinsam ist man hier stark. Auch die Bundestags- und Landtagsabgeordneten der Region müssen hier für die Region handeln und nicht für die Fraktion. Denn schließlich werden sie von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt, damit sie die Interessen der Region vertreten.
Wenn sich nun beklagt wird, dass der Ausbau der Weddeler Schleife nicht im Investitionsrahmenplan (IRP) des Bundes aufgenommen worden ist, dann ist das von der regionalen Politik eben nicht gewollt und sie hat nicht das nötige Interesse und die Initiative bei den Verhandlungen mit dem Bundesverkehrsministerium gezeigt. Denn den A 39-Neubau von Wolfsburg nach Ehra für 136,9 Millionen Euro beispielsweise hat die Politik aufgenommen. Dieses zeigt, welchen Stellenwert die Zweigleisigkeit wirklich hat.
Ist es denn sinnvoll, die Weddeler Schleife auszubauen?
Sellien: Ja. Dieses hätte eigentlich gleich beim Neubau für wenig Mehrkosten erfolgen müssen. Aber damals hatte es hier niemanden interessiert. Nun ist es zu spät, da die Deutsche Bahn bzw. der ICE keine zweigleisige Weddeler Schleife benötigt. Dass jetzt schon wieder VW herangezogen werden muss, um hier etwas zu erreichen, zeigt, wie schwach die Region Braunschweig hier aufgestellt ist. Anscheinend ist die IHK bei den Unterstützern nicht dabei. So wichtig kann es dann also nicht sein.
Und die Fahrgastnachfrage im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) zwischen Braunschweig und Wolfsburg ist – verglichen mit ähnlichen Strecken zwischen zwei Großstädten – recht gering, auch wenn es in den letzten Jahren hier große Steigerungen gegeben hat. Allenfalls ein oder zwei Züge zur Hauptverkehrszeit sind überfüllt. Für einen Halbstundentakt hat der Zweckverband Großraum Braunschweig (ZGB) kein Geld und die Politik will dieses auch nicht bereitstellen.
Zum Vergleich einmal einige Zahlen: Die Nachfrage im Schienenpersonennahverkehr liegt auf der eingleisigen Weddeler Schleife mit einem Stundentakt und weitgehend modernen Fahrzeugen bei rund 1.900 Fahrgästen pro Werktag. Auf der eingleisigen Strecke Augustfehn – Oldenburg(Oldb) liegt diese bei bis zu rund 3.700 Reisenden. Da stellen sich ganz andere Fragen, als nach dem zweiten Gleis. So beispielsweise, ob hier das richtige Betriebskonzept sowohl heute als auch morgen, im mit viel Vorschusslorbeeren bedachten „Regiobahnkonzept des ZGB“, gefahren wird.
Bietet sich etwas als Kompensation an?
Sellien: Wer soll Braunschweig denn etwas anbieten? Die Politik hat keinen direkten Einfluss mehr auf das Fernverkehrsangebot. Mit der Bahnreform hat sie ihren Einfluss aufgegeben. Wenn dann wie beispielsweise im Leinetal zwischen Göttingen und Hannover die IC-Linie von Frankfurt von der Deutschen Bahn auf die Hochgeschwindigkeitstrasse verlegt wird, ist die Aufregung und Empörung bei der Politik groß. Dabei waren es gerade die regionalen Bundestagsabgeordneten, die dieser Bahnreform und damit der Abkopplung ihrer Regionen von Fernverkehr zugestimmt haben. Auch hier ist nicht eine private Deutsche Bahn AG das Problem, sondern die Politik, die Entscheidungen trifft, die dann zu nicht gewünschtem, aber marktkonformem und vorhersehbarem Verhalten führt. Aber die so genannten Kritiker werden oft nicht ernst genommen. Auch stellt sich die Frage, ob der modernisierte und subventionierte Nahverkehr hier nicht dem IC die Fahrgäste entzogen hat. Denn gegen Niedersachsen- und Schönes-Wochenendeticket kann der IC nicht konkurrieren. Davon einmal abgesehen, sollte mit der Verlegung des IC im Ballungsraum Frankfurt(M) die Anschlusssituation verbessert werden.
Was kann die Stadt oder die Region tun, um im Ernstfall andere Lösungen anzubieten?
Sellien: Nichts. Sie kann dann allenfalls dafür sorgen, dass die Braunschweigerinnen und Braunschweiger mit dem Nahverkehr gut nach Wolfsburg und Hannover kommen, um dort in den ICE zu steigen. Vielleicht wird deswegen nach dem Regiobahnkonzept des ZGB bereits eine SPNV-Linie Hildesheim – Braunschweig – Wolfsburg eingerichtet.
Hat die mögliche Abkopplung Braunschweigs vom ICE-Netz etwas mit der Privatisierung der Bahn zu tun?
Sellien: Nein. Auch eine Staatsbahn würde vergleichbar handeln. Das Problem ist hier nicht die Organisationsform des Unternehmens, sondern der Staat bzw. die Politik. Die heutige Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover – Würzburg sollte nach den Planungen der Deutschen Bundesbahn ursprünglich an Göttingen und Fulda vorbei führen, weil die Reisezeit Hamburg – Frankfurt(M) optimiert werden sollte und nicht die Erreichbarkeit von wichtigen Städten und Regionen, um dem Flugverkehr Konkurrenz zu machen. Trotz dieser Planung der Staatsbahn führt die Strecke heute über Göttingen und Fulda mit einer entsprechend verlängerten Reisezeit.
Was wäre passiert, wenn die Region Braunschweig und das Land Niedersachsen damals auch dafür gesorgt hätten, dass die Hochgeschwindigkeitsstrecke Berlin – Hannover nicht an Braunschweig vorbei, sondern durch Braunschweig gelegt worden wäre, mit einer nur unwesentlich längeren Reisezeit Berlin - Hannover?
Es ist also immer die Politik und deren Verständnis von Raumentwicklung und Versorgung der Bevölkerung. Wenn die Politik zu einer Deutschen Bundesbahn oder einer Deutschen Bahn AG sagt, diese Projekte will und finanziere ich nicht, dann kommen diese auch nicht. Aber oft ist gerade die Politik die treibende Kraft.
Auf was wollen Sie noch hinweisen? Was wäre noch dringend?
Sellien: Viele Probleme entstehen, weil das System „Eisenbahn“ oder „Öffentlicher Verkehr“ vollkommen anders funktioniert, als das System „Straße/Auto“. Aber Viele glauben dennoch, hier kompetent mitreden zu können. Insofern ist es oft wie beim Fussball, wo es auch 80 Millionen Bundestrainer gibt.
Da nun die Wichtigkeit der Zweigleisigkeit von fast allen „Entscheidern“ so hochgehalten und implizit diskutiert wird, frage ich mich, wo die Diskussion und Aufregung über die wirklichen wichtigen und dringenden Probleme bleibt. Dieses ist die Finanzierung des SPNVs und auch des weiteren öffentlichen Verkehrs auf der Straße. Hier wird geklagt, aber nicht gehandelt. So stellt der Bund dem ZGB über das Land Niedersachsen ausreichend finanzielle Mittel bereit. Diese leitet das Land aber nicht entsprechend an den ZGB weiter, sondern zweckentfremdet diese für den Schülerverkehr, der originäre Landesaufgabe ist, also mit Landesmitteln zu finanzieren ist. Landesweit werden so 87,1 Millionen Euro zweckentfremdet. Hier ist seitens der Politik keine Aktivität zu sehen, keine Resolution, Funkstille, Lähmung. Dabei geht es hier um viel Geld, mit dem auch die RegioStadtBahn hätte finanziert werden können mit weitaus mehr Fahrgastzuwachs als im „Regiobahnkonzept“. Auf vielen Strecken wäre ein wesentlich dichterer Takt oder ein teilweiser Ausbau der Infrastruktur, beispielsweise zwischen Braunschweig, Gifhorn und Wittingen, oder für längere Bahnsteige möglich. Und der Zeitpunkt für Aktivitäten hier ist günstig. Rot-Grün hat im ZGB die Mehrheit, im Land regiert schwarz-gelb und bald stehen Landtagswahlen an.
Für das zweite Gleis der Weddeler Schleife, für das der Bund zuständig ist, und welches auch nicht dringend und zwingend notwendig ist, wird „gekämpft“. Für die vorenthaltenen und dringend benötigten Bundesmittel zur Verbesserung des SPNV-Angebotes aber nicht? Da passt irgendetwas nicht. Da besteht dringend Erklärungsbedarf gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der Region Braunschweig, warum kampflos auf Geld für den Öffentlichen Verkehr verzichtet wird.