„Balance-City“ - Braunschweig 2030 - Eine Vision

Wir alle sehnen uns nach einer heilen Welt. 25 Jahre nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl und jetzt nach der neuen Atomkatastrophe in Japan ist unser Vertrauen in die Zukunft nicht gerade größer geworden. Dazu kommen ständig neue Katastrophen auf der ganzen Erde, die dem Klimawandel zugeordnet werden. Und jetzt auch noch die Kriege in der arabischen Welt, die uns beunruhigen. Wir leben in einer Zeit elementaren Umbruchs.

Die Menschen müssen vieles anders machen, wenn sie ihre Welt retten wollen. Fangen wir in kleinen Schritten an. Betrachten wir erst einmal unsere eigene Stadt - unser geliebtes Braunschweig. Wie eine bessere Zukunft 2030 aussehen könnte, beschreibt folgender Artikel ...

Braunschweig 2030

BDB Vortrag und Podiumsdiskussion am 10. März 2011 in der Dornse *

 

 

Titel: "Der Mensch muss sich ändern, wenn er die Welt retten will."
Künstlerin: Ina Ockel
Foto: Ina Ockel

 


 

Schlosspark kurz vor der Zerstörung am 18. Mai 2005

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Hinweis: Aus gegebenem Anlass weisen wir darauf hin, dass ausnahmslos alle Fotos auf Braunschweig-Spiegel.de geschützt sind und nicht entnommen werden dürfen (Red.).

 

Braunschweig 2030

BDB Vortrag und Podiumsdiskussion am 10. März 2011 in der Dornse

 

Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Menschen aus Braunschweig und der Region

Die Bevölkerung einer Stadt besteht in der Regel zu etwa 50% aus Verbrauchern und zu etwa 50% aus Menschen. Manchmal haben die Verbraucher nur eine Stimme Mehrheit.

Manchmal wissen die Menschen auch nicht, ob sie noch Menschen sind oder schon Verbraucher.

Die Verbraucher hat die sogenannte Wirtschaft fest im Griff. Sie müssen möglichst viel verbrauchen, damit es der Wirtschaft gut geht. Die Wirtschaft veranstaltet große Verbrauchermessen für sie. Da bietet sie alles Mögliche an, was schnell verbraucht werden soll, aber oft keiner recht gebrauchen kann.

Die Menschen dagegen wollen einfach nur sinnvoll leben und glücklich sein.

Die Verbraucher nennt die Wirtschaft auch gern Realisten. Sie bietet ihnen z.B. Märkte an, die realkauf heißen oder Banken, die sich sogar hyper- real-estate nennen und Immobilienbörsen, die expo-real heißen.

Die Menschen nennt die sogenannte Wirtschaft gern Träumer, wobei sie vergisst, dass auch Verbraucher träumen müssen, damit sie überhaupt leben können.

Wir schreiben das Jahr 2030. Seit einiger Zeit haben die Menschen in Braunschweig die Mehrheit und sie haben beschlossen, ihre Stadt für die Zukunft zu rüsten.

Als Erstes haben sie einen Stadtentwicklungsplan mit einem integrierten Handlungskonzept erarbeitet. So etwas gab es in Braunschweig bisher nämlich noch nicht. In dem Plan werden Entwicklungsprioritäten vorgeschlagen und in die Handlungskonzepte möglichst viele Bereiche gesellschaftlichen Lebens einbezogen, miteinander verknüpft und gewichtet. Jeder kann nachvollziehen, welche Projekte gerade dran sind und warum sie gerade dran sind.

Für die ökologische Stadtentwicklung gelten dabei folgende zehn Leitsätze:

1. Stadtstrukturen sozial und umweltverträglich planen und erneuern

2. Flächenverbrauch gezielt reduzieren

3. Grün- und Freiräume erhalten, pflegen, entwickeln und neu schaffen

4. Boden gesund erhalten bzw. verbessern

5. Wasser sparen, sinnvoll verwenden, Regenwasser stärker nutzen

6. Luftqualität verbessern, neue Luftschneisen schaffen und nicht verbauen, CO2-Ausstoß und Feinstaub verringern

7. Abfall vermeiden, verwerten bzw. umweltgerecht entsorgen

8. Energie sparen, rationeller nutzen, weitere erneuerbare Energiequellen mit Nachdruck erschließen

9. Lärmbelastungen vermindern oder ganz vermeiden

10. Stadt der kurzen Wege schaffen und Wohnen und Arbeiten wieder stärker miteinander verbinden


Szenario 2030

Die Einwohnerzahl in der Region ist stark zurückgegangen. Der Braunschweiger Einzelhandel hat immer noch eine hohe Anziehungskraft, aber auch die kleineren Nachbarstädte wie z.B. Wolfenbüttel, Peine, Schöningen, Salzgitter und Wolfsburg haben ihre Innenstädte weiter herausgeputzt und ihre Einwohner kaufen auch dort gern ein.


Stärkung der Stadtmitte

Das ECE in Braunschweig musste leider schließen. Dafür wurde in der Mitte der Stadt im ehemaligen Posthof an der Friedrich-Wilhelm-Straße eine Markthalle errichtet, die Burgpassage, der CityPoint, die Welfenhofpassage und auch Karstadt wurden revitalisiert, erweitert und aufgewertet. In der Markthalle gibt es vornehmlich heimisches Obst und Gemüse sowie Fleisch und andere Produkte von Biohöfen. „Slowfood“ statt „Fastfood“ ist schon länger zur Selbstverständlichkeit geworden. Der weltweite Lebensmitteltourismus ist erheblich geschrumpft und findet in erster Linie noch als „faire trade“ statt. Trotzdem gibt es auch eine Vielfalt exotischer Waren und Gerichte - zubereitet von den zahlreichen ausländischen Einzelhändlern unserer Stadt. Die Markthalle hat ein grünes Dach, aus dem zeltförmig Glasoberlichter herausragen.


Wohnen in der Innenstadt

Rings um die Markthalle sind in den Obergeschossen der ehemaligen Post- und Fernmeldegebäude und auch in den Nachbarhäusern helle, lichte ein- und zweigeschossige Wohnungen entstanden. Die Bewohner züchten auf den Gründächern, Terrassen, Balkonen und in ihren Wintergärten u.a. Tomaten, Avocados und Zucchinis. Selbstversorgung hat einen hohen Stellenwert. Rank- und Kletterpflanzen sorgen für ein gutes Kleinklima: Gesundes Wohnen mitten in der Stadt.

Die Energieversorgung erfolgt durch ein Blockheizkraftwerk und Solarund Photovoltaikanlagen auf den Dächern. Der Energieverbrauch ist erheblich gesunken. Das Projekt hat eine Vorbildfunktion für weitere Baublockumbauten in der Innenstadt. Überall gibt es neues Grün in den Innenhöfen und neue Wohnungen in frei gewordenen Gewerberäumen. In einigen Baulücken wurden Pocketparks mit Wasserspielen angelegt. Die Grünfläche an der ehemaligen öffentlichen Bücherei wurde leider nicht erhalten und der städtebaulich interessante Bauteil aus den 20er Jahren leider auch nicht. Dafür beinhaltet der Neubau jetzt ein Kreativzentrum und keine überflüssige Spielhalle und in den Obergeschossen ist eine vielgestaltige Wohnlandschaft entstanden.


Friedrich-Wilhelm-Viertel


Die Markthalle übt einen fruchtbaren Impuls auf die Entwicklung des Friedrich-Wilhelm-Viertels aus. Hier ist inzwischen eine lebendige Kunstszene mit Galerien und Ateliers entstanden. Die Friedrich-Wilhelm- Straße wurde mit großen Bäumen ausgestattet. Über das Nord LBGrundstück ist eine großzügige Verbindung zum Bürgerpark, zur VWHalle und zum neuen Freizeit- und Bildungszentrum entstanden. Es beherbergt gleichzeitig ein Haus der Kulturen, eine noble Geste der Stadt an unsere Mitbürger mit Migrationshintergrund: ein echtes Integrationsprojekt. Der Hotel-Standort wurde hier aufgegeben. Stadt dessen wurde ein Bio-Hotel gegenüber dem ArtMax an der Oker gebaut, das viele Gäste in die Stadt lockt.


Schlossgarten

Kristallisationspunkte der Innenstadt sind wieder der Kohlmarkt und der Altstadtmarkt. Nach Abriss des ECE-Kaufhauses sind nur noch die öffentlichen Einrichtungen hinter der Schlossfassade übrig geblieben. Sie wurden durch ein Museum für moderne Kunst unter der Glaskuppel der Eingangshalle ergänzt. Hinter und neben dem Gebäude erfreut die Besucher ein blühender Schlossgarten, der ein kleines Freilufttheater umschließt: eine sinnvolle Ergänzung der Theater- und Kulturlandschaft eingebettet in Museumspark, Theaterpark und Schlossgarten. Eine gute Durchlüftung der Innenstadt ist nun wieder gegeben. Die Schlossfassade wird abends mit wechselndem farbigen Licht angestrahlt, damit der Kulissencharakter deutlich wird.

Magniviertel

Das kleinteilige Magniviertel ist voller Leben, weil sich die Geschäftsinhaber auf Antiquitäten, Designartikel und Kinderspielzeug spezialisiert haben. Die Cafes und Kneipen sowie das zu einem Kunstmarkt umgeformte Magnifest haben eine hohe Qualität und locken viele Besucher an.


Verkehr

Durch den Bau der Regional-Stadtbahn hat der Individualverkehr in der Innenstadt stark abgenommen. Es rollen mehr und mehr mit Ökostrom betriebene Elektroautos leise durch die Stadt. Die Hauptverkehrsstraßen konnten zurückgebaut und die frei werdenden Flächen Fußgängern und Radfahrern zur Verfügung gestellt werden. Außerdem werden die freien Flächen für eine ausgeprägte Grünvernetzung genutzt, die die Innenstadt mit den Wallringgrünflächen und Parks verbindet. Einige durch die Innenstadt verlaufende Okergräben wurden wieder freigelegt und mit Wasser gefüllt. Sie sorgen für einladende Aufenthaltszonen und weisen gleichzeitig auf die Geschichte der Stadt hin.

Der John-F.-Kennedy-Platz wurde verkleinert und die Kurt-Schumacher- Straße verengt. Sie verbindet nun als Allee mit vier Baumreihen den Bahnhof mit der Innenstadt. Das ehemalige Atrium-Bummel-Center wurde umgebaut. Den breiten Fußweg auf Straßenniveau begleiten nun ebenerdig Dienstleister und kleine Geschäfte und führen den Besucher gezielt in die City. In den Hochhäusern wurden jeweils zwei übereinander liegende Geschosse entkernt und den Bewohnern als Grün- und Erholungsfläche zur Verfügung gestellt. Auf der früheren Geschäftsplattform befinden sich jetzt luftige Terrassenwohnungen mit Blick auf Viewegs Garten.

 

Wallring

Die weitere Bebauung der Wallringflächen wurde gestoppt. Hier sorgt das Gleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten Grünflächen für einen hohen Naherholungswert für die Menschen und einen guten Entwicklungsraum für Pflanzen und Tiere. Auf dem ehemaligen Gelände des Holwede-Krankenhauses wurden sowohl in alten erhaltenswerten Gebäuden als auch in neuen Häusern in ökologischer Bauweise und eingebettet in das Okergrün Gemeinschaftswohnprojekte realisiert. Mehrgenerationenhäuser werden überall in der Stadt immer beliebter. Besonders auf dem ehemaligen Krankenhausgelände an der Gliesmaroder Straße sind lebendige, neue Wohnformen entstanden. Gegenseitige Hilfe wird groß geschrieben. Krankenhaus- und Pflegekosten konnten dadurch gesenkt werden.

 

Ringgebiete

Im östlichen Ringgebiet wurden automatisch gesteuerte unterirdische Parksafes angelegt. Viele Straßen konnten dadurch zu Spielstraßen umgewidmet werden, da sie nicht mehr durch parkende Autos verstopft werden. Das westliche Ringgebiet erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Hier gibt es im Bereich des die Stadtteile verbindenden ehemaligen Ringgleises gute Entwicklungsmöglichkeiten für Kreativberufe. Kleine Ateliers und Werkstätten haben sich vor allem im Bereich des früheren Westbahnhofs angesiedelt und bilden hier mit den neu entstandenen Freizeiteinrichtungen mit Badeteich und plätscherndem Jödebrunnen einen neuen Anziehungspunkt. Der Ringgleisweg wurde mit einer Brücke über die Oker nach Norden verlängert.

 

Bäder

Das Spaßbad an der Hamburger Straße wurde nicht gebaut. Es wurde immer teurer. Stattdessen ist an dem geplanten Standort ein kleineres Bad mit einer besonderen Pflanzenwelt entstanden, das hauptsächlich der Versorgung der umgebenden Stadtteile dient. Alle anderen Bäder wurden erhalten und verbessert. Ein weiteres Bad ist im Bereich der bisher unterversorgten Weststadt errichtet worden. Der Schwimmunterricht für alle Schulen wird somit sicher gestellt und auch ältere Menschen kommen auf kurzem Wege zum Schwimmen. Zur Unterhaltung der Bäder haben sich Bürgervereine gebildet. Sie unterstützen ihr Bad mit Geld und Muskelkraft. Die Bäder tragen erheblich zur Erhaltung der Lebensqualität in ihren Quartieren bei.


Eintrachtstadion

Das Eintrachtstadion hat seinen Namen behalten. Dank der sorgfältigen Planung des Architekturbüros haben sich die Kosten für das inzwischen fertiggestellte Bauwerk nicht erhöht. Die Eintrachtspieler haben sich so über die schöne, neue Gestaltung gefreut, dass sie Deutscher Meister geworden sind. Als sozialer Ausgleich für die teure Maßnahme dürfen alle Hartz IV Empfänger umsonst in das Stadion und bekommen von VW noch eine Currywurst dazu.

 

Umwelt- und Naturschutzzentrum

Auf dem Grundstück Teichblick in Riddagshausen wurde ein gläsernes Umwelt- und Naturschutzzentrum errichtet. Hier wird in wechselnden Ausstellungen kontinuierlich über Umweltthemen informiert. Auf nationalen und internationalen Tagungen werden die Fortschritte der „Balance-City“ Braunschweig vorgestellt und diskutiert.

 

Stadtrand

Teile von Einfamilienhausgebieten am Rande der Stadt konnten der Natur zurück gegeben werden. Hier sind u.a. kleinere Biolandwirtschaftsbetriebe entstanden, die überwiegend genossenschaftlich organisiert sind und die zur Versorgung der Stadtbewohner mit Lebensmitteln auf kurzem Wege beitragen. Schülerinnen und Schüler helfen in den Ferien. Sie lernen nicht nur ökologische Anbauweisen kennen, sondern erhalten durch innigen Naturkontakt mehr Schutz gegenüber den durch die übertechnisierte Umwelt verursachten psychischen Erkrankungen.

 

Natur in Bildung und Erziehung

Tägliche Berührung mit frischer Luft, Erde, Sonnenlicht, Pflanzen und Tieren führt zu einer gesunden Entwicklung. Einklang mit der Natur weckt positive Kräfte. Zerstörte Natur erzeugt Depressionen. Unterbrochene natürliche Kreisläufe machen den Menschen langfristig handlungs- und lebensunfähig. Verständnis für ganzheitliche Wirkungsgefüge wird in den Braunschweiger Kindergärten und Schulen früh geweckt. Nur so kann sich der Mensch seines schizophrenen Verhaltens bewusst werden und sein Handeln ändern. Die Vernetzung im Kopf beginnt früh und frühe Erfahrungen bestimmen späteres Leben. Wachstums- und Zerfallsprozesse werden in ihrer Schönheit, Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit früh erkannt und befähigen den Menschen später zu ökologisch orientiertem Handeln.

„Wir haben die Umwelt nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen.“ Das haben immer mehr Braunschweiger Bürger verstanden.

 

Rat und Verwaltung

Braunschweig hat sich re-demokratisiert, Bürgerbeteiligung hat einen hohen Stellenwert. Der Rat trifft keine Entscheidung mehr ohne intensive Bürgeranhörung. Bürgerinitiativen werden begrüßt und wirken lebendig an der Gestaltung der Stadt mit. In der Verwaltung werden prozesshemmende Hierarchien abgebaut und ressortübergreifende Arbeitsgruppen gebildet, die über Sprecher ihre Arbeitsergebnisse an die Entscheidungsträger weitergeben. Der Schriftverkehr erfolgt in einer für jedermann verständlichen Sprache.

Die Braunschweiger sehen glücklicher aus als früher. Über der Stadt schwebt ein leises Lächeln.

 

Braunschweig, 09. März 2011       Wolfgang Wiechers

 

 


* Das Thema der Veranstaltung lautete "Braunschweig - Die Stadt im Jahr 2030" - durchgeführt vom BDB. Der BDB ist der größte Verband von Architekten, Ingenieuren und anderen Bauschaffenden. Er organisiert einmal im Jahr eine Veranstaltung in der Dornse zu einem aktuellen Thema für Mitglieder und Gäste vor allem aus Rat und Verwaltung. Der BDB hatte 2011 Wolfgang Wiechers gebeten, das Einleitungsreferat zu halten. An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen Stadtbaurätin Maren Sommer Stadt BS, Prof. Walter Ackers ehemals Inst. für Städtebau TU, Volkmar von Carolath Arbeitsausschuß Innenstadt und Wolfgang Wiechers teil. Jörg Fiene, Chefredakteur des Lokalteils der BZ moderierte die Diskussion. In der BZ vom 12. März 2011 erschien ein Artikel zu der Veranstaltung. In der Zeitschrift "informativ" des BDB, 4/2011, 32. Jahrgang, sind der Vortrag und der größte Teil der Diskussion abgedruckt.