JVA Wolfenbüttel. Zwei Tage im April: 11. April 1945 und 11. April 2015
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- Veröffentlicht: Sonntag, 12. April 2015 18:40
- Geschrieben von Jürgen Kumlehn, Erinnerer

Ausschnitt aus dem Denkmal neben dem Reichstagsgebäude August Merges betreffend.
Zwei Tage im April: 11. April 1945 und 11. April 2015
Neben dem Reichstagsgebäude in Berlin befindet sich das Denkmal für 96 von den Nationalsozialisten ermordete Reichstagsabgeordnete. Dieser Schriftzug zu Wolfenbüttel erinnert an den einstigen Abgeordneten August Merges, der im Wolfenbütteler Gefängnis gestorben sein soll. Hier haben Historiker schlecht recherchiert. Merges starb im März 1945 versteckt in einem Gartenhaus in Braunschweig an den Folgen mehrerer Inhaftierungen.
JVA Wolfenbüttel
11. April 1945 (vor 70 Jahren)
Gegen Mittag war nach der "Übergabe" der Stadt Wolfenbüttel an die 9. US-Armee durch den nationalsozialistischen Bürgermeister Fritz Ramien endlich befreit. Schon bald darauf öffneten GI's die Zellen im Gefängnis und befreiten die dort eingepferchten 1512 registrierten Häftlinge.
Zeitzeuge dieses Ereignisses war Fritz Counradi, der in den Gefängnisbetrieben seit Ende 1943 die Produktion optischer Geräte der Firma Voigtländer für die Wehrmacht geleitet hatte. Seine Erinnerungen veröffentlichte Wilfried Knauer, Leiter der Gedenkstätte von 1990 bis 2015, im Heimatbuch des Landkreises Wolfenbüttel 1995.
Ausschnitte dieses eindrucksvollen Berichts sollen hier zitiert werden:
Am Morgen des 11. April waren offensichtlich nur noch der Lazarettbeamte und der für die sogenannte „Kammer" mit der privaten Habe der Gefangenen zuständige Wachtmeister im Dienst. Fritz Counradi und seine Kollegen hatten schon seit dem Abtransport „ihrer" N.N.-Gefangenen, mit denen sie über 16 Monate gemeinsam gearbeitet hatten, keine Möglichkeiten zur Fortsetzung der Produktion. Sie blieben in ihren Werkstätten und bei den Anlagen, um den ganzen Betrieb ordnungsgemäß den alliierten Truppen zu übergeben.
Eine merkwürdige Unruhe hatte an diesem Morgen die ganze Anstalt erfaßt. Aus den Fenstern, die zum Herzogtore lagen, beobachtete Counradi, wie amerikanische Infanteristen gebückt, die Gewehre schußbereit im Anschlag und an den Straßenrändern Deckung suchend in Richtung Breite Herzogstraße vorrückten. Wenige Minuten später drang ein leichter Panzer durch das hintere Tor in die Anstalt ein. Sofort setzte ein ohrenbetäubender und infernalischer Lärm" ein. Die Gefangenen schlugen in ihren Zellen mit den Hockern gegen die zum Teil eisenbeschlagenen Türen, sie schrien und heulten.
Ein baumlanger, farbiger amerikanischer Soldat hatte offensichtlich Schlüssel gefunden, die er einem im Grauen Hause umherlaufenden Hausarbeiter zuwarf. Dieser rannte über die Galerien und öffnete jede einzelne Zelle. Mit rasender Geschwindigkeit bewegten sich Hunderte von Gefangenen zum Küchengebäude und zur Kammer. Der Kammerbeamte, ein kleingewachsener, älterer Mann, der sich auf der Treppe schützend vor den Eingang des Gebäudes stellte, „flog" im hohen Bogen über die Köpfe der Gefangenen hinweg auf den Holzhof. Die Kammer wurde geplündert.
Dem Lazarettbeamten, der bis zum Schluß bei „seinen" Patienten ausgeharrt hatte, halfen Gefangene mit einer Leiter über die Mauer. Die wegen krimineller Delikte Verurteilten beschafften sich sofort Zivilkleidung in der Kammer, sollen wohl anschließend auch ihre Personalakten und sonstige möglicherweise belastende Unterlagen beseitigt haben, um dann zu verschwinden. (...)
In der Küche fanden die Gefangenen zu ihrer großen Überraschung umfangreiche Lebensmittel bestände vor, die sogleich verteilt wurden. In den hinter dem Küchengebäude liegenden Stallungen war noch der gesamte Bestand an Mastvieh vorhanden, so daß einige Gefangene begannen, die Schweine, ca. 200 Stück, und den gesamten Kaninchenbestand zu schlachten. Über offenen Feuerstellen, die auf dem Holzhof eingerichtet wurden, briet man das Frischgeschlachtete. Große Kessel mit Fleisch wurden in der Küche aufs Feuer gesetzt. Die Szene schien geradezu idyllisch. So zog am Abend dieses denkwürdigen Tages, wie Fritz Counradi berichtet, der lange vermißte Duft von gebratenem und gekochtem Fleisch über das Anstaltsgelände. Aber schon wenige Stunden später erfüllte entsetzliches Schreien und Stöhnen die Zellengebäude. Viele der völlig ausgehungert Gefangenen vertrugen das frischgeschlachtete, fettige Fleisch nicht und starben unter großen Qualen noch in derselben Nacht.
Die Anzahl auch dieser Opfer wird wohl nicht mehr festzustellen sein. Der Abwicklungsbericht des Registrators Walter Niemeier resümiert die Ereignisse dieses 11. April 1945 und gibt ihnen folgende Deutung: „Die in hiesiger Anstalt herrschenden vorhergehenden Zustände lassen das Verhalten der Gefangenen bei ihrer Befreiung einigermaßen erklären, insofern der Ernährungszustand fast sämtlicher Gefangenen als unterernährt zu bezeichnen war. Den Inhaftierten wurden nicht im Mindesten ausreichende Nahrung zuteil,... dabei wurde aber das tägliche Arbeitspensum verlangt." Das durchschnittliche Körpergewicht lag somit unter 100 Pfund.
11. April 2015 (heute):
Um 14 Uhr begann die diesjährige Gedenkfeier mit Grußworten und zwei über Begrüßungen hinausgehenden Referaten der niedersächsischen Ministerinnen Frauke Heiligenstadt und Antje Niewisch-Lennartz. Anwesend waren der Landtagsvizepräsident Klaus-Peter Bachmann und mehrere Landtagsabgeordnete sowie Landrätin Christiana Steinbrügge und Bürgermeister Thomas Pink.
Jens-Christian Wagner und Martina Staats von der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten stellten in kurzen Beiträgen die Gedenkstätte und deren Zukunft dar. In Anwesenheit von Familienangehörigen einiger ehemaliger Häftlinge wurde etwas zu kurz gekommen auch über die Befreiung der Inhaftierten berichtet. Die obige Beschreibung blieb unerwähnt.
Die Gedenkfeier fand in der Gefängniskirche statt, zu der man durch das oben erwähnte Zellengebäude "Graues Haus" in die erste Etage gehen musste. Die Zellen, beidseitig eines langen Ganges, waren nicht belegt. Der erste Eindruck der grauen Umgebung wurde erhellt durch eine lange Tafel mit weißen Tüchern, die auf eine Länge von vielen Metern mit Platten bedeckt mit kulinarischen Angeboten zum Essen reizte. Zwischen dem dunkel gekleideten Aufsichtspersonal bewegten sich Köche in weißer Berufskleidung. An dem einen Ende des Zellenganges standen Tische und Stühle bereit und am anderen Ende waren runde Partytische für "Stehesser" bereitgestellt.
Nach der würdigen Feier in der Kirche begaben sich die vielen Besucher gegen 16 Uhr zum Hinrichtungshaus. Kränze wurden niedergelegt, Besucher konnten sich mit vorher überreichten Rosen an dieser Zeremonie beteiligen.
Ja, und dann - fanden im Anschluss daran, wie es im Programm heißt, Begegnungen bei Kaffee und Kuchen in diesem Haus statt, aus dem möglicherweise fast zur gleichen Uhrzeit vor siebzig Jahren die unter mangelnder Ernährung leidenden Häftlinge herausgestürmt waren, um sich vor allem auch um Essen zu kümmern. Einige von ihnen starben unter unsäglichen Qualen.
Natürlich ist ein Tag der Befreiung ein freudiges Erlebnis, dass gefeiert werden kann und auch muss. Aber musste die Feier, wenn eben ein Büffet dazugehören muss, in dieser Umgebung begangen werden?
Der Vizepräsident des Niedersächsischen Landtages, Klaus-Peter Bachmann, auf diese Diskrepanz angesprochen, mochte sich dazu nicht äußern. Vielleicht äußern sich ja diejenigen, die diese Büffet mit Partytouch im "Grauen Haus" geplant und inszeniert haben. Vielleicht habe ich ja alles nur missverstanden. Ich hoffe es sehr ....