Eine Bombenstory: Das leidige Warten auf den Big Bang
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- Veröffentlicht: Donnerstag, 12. April 2018 12:02
- Geschrieben von Klaus Knodt
Für diese 500-Kilo-Fliegerbombe in Nürnberg legten die Sprengmeister einen Sicherheitskreis von 400 Metern fest. Foto: wikipedia
Reportage aus dem Krisengebiet
„Hier spricht die Polizei. Verlassen Sie jetzt Ihre Wohnungen. Evakuierungsstellen sind eingerichtet. Melden Sie sich bei der Feuerwehr unter...“ Wirre Ansagen aus Lautsprechern; dazu ein wahrhaft elegisches April-Gewitter über der Stadt. Martinshörner zerreißen die stille Schwärze. Braunschweig im Ausnahmezustand: Viewegsgarten, Magniviertel und Teile der Innenstadt sollen geräumt werden, weil ein Baggerfahrer in der Hennebergstraße mit seiner Grabschaufel eine 500-Kilo-Hinterlassenschaft des 2. Weltkriegs getroffen hat. Fliegerbombe, vermutlich amerikanisch, versehen mit zwei Zündern.
Drauf gestossen sein muss der Baggermann wahrscheinlich um 10 oder 12 Uhr, aber das sollte ein Untersuchungsausschuss im Rat klären. Nach Ablauf der Krisenbefehlskette unter Mitwirkung des Ordnungsdezernenten verlautbarte die städtische Pressestelle (neudeutsch: „Referat für Kommunikation“) um 16.33 Uhr, in der Hennebergstraße sei ein Blindgänger entdeckt worden. Näheres später.
Welch ein Zufall: Just um 16.00 Uhr schwang sich der Autor dieser Zeilen auf’s Rad, um seine übliche Fitness-Runde entlang der Oker nach Wolfenbüttel zu absolvieren. Und als er um 17.30 Uhr zurück kehrte, konnte er absperrungslos durch den Bürgerpark pedalieren, die F.-W.-Krahe-Straße hinaufradeln, und durch die Obergstraße (150 Meter am Blindgänger vorbei) zum Kennedyplatz fahren. Von dort nach Hause ins Magniviertel. Hat die Krisenbefehlskette da etwa versagt? Oder war sich im Rathaus noch Niemand dieser tollen Krise bewusst, mit der man jetzt mal so richtig Schmackes zeigen konnte?
Düstere Fenster, gottverlassen leere Straßen. Auch im Ölschlägern (wurde auf der ersten Evakuierungs-Liste der Stadt glatt vergessen!) wurden die BewohnerInnen zwangsgeräumt. Foto: Klaus Knodt
Wenig später beweist die Stadt ihre Kompetenz. 18:00 Uhr: Mobiler Krisenstab wird auf irgendeinem Stadtplatz eingerichtet, mit Blaulicht und provisorisch gaffer-getapten Kabeln. 18:10: Das Konzert mit dem Orchestre de Chambre de Paris in der Stadthalle wird abgesagt. Der Bahnhof wird dagegen nicht evakuiert. 18.59: Alle Anwohner aus dem Evakuierungs-Bereich (Erklärung siehe unten) dürfen sich ab 19 Uhr im Schulzentrum Heidberg aufhalten. 20.15: Jetzt steht fest: Rund 8.500 Einwohner müssen evakuiert werden. Dazu kommen 1.500 - 2.000 Hotelgäste, die sich unter anderem wegen einer Messe in der Stadt aufhalten. 20.20: Mit Beginn der Evakuierung dürfen Fahrgäste aus den Bahnen und Bussen nicht mehr aussteigen, nur ein Zustieg ist in der „Sperrzone“ möglich. 20.39: Ab 21 Uhr werden im Evakuierungs-Gebiet die Straßen gesperrt. 20.59: Die Einsatzkräfte haben mit der Evakuierung des Magniviertels begonnen...
Blöd nur: Die meisten Bewohner im Magniviertel machen einfach die Tür nicht auf, wenn’s klopft oder klingelt. Und das Licht in einer Wohnung darf leuchten und der Fernseher laufen, auch wenn die BewohnerInnen nicht da sind. Schliesslich spielt gerade Bayern gegen Sevilla.
So schrecklich eine 500-Kilo-Bombe auch ist; in der Regel macht sie einen Krater von 15 bis 30 Metern Durchmesser und 5 bis 9 Metern Tiefe. Je nach Lage im Gelände errichteten Städte (München, Nürnberg, Hannover) bisher einen Sperrkreis von 400 bis 1000 Metern – warum man in Braunschweig gleich zwei ganze Stadtviertel evakuierte, bleibt in der Rechenschaft der Verantwortlichen. Zumal genug „Dämmmaterial“ in Form des herzoglichen Wallrings und der Zwischenbebauung vorhanden war.
Um 22.52 meldet Stadtsprecher Rainer Keunecke: Die Evakuierung läuft – „und zwar gut. Einen genauen Zeitpunkt für die Entschärfung gibt es aber leider noch nicht". Es gebe kaum Personen, die ihre Häuser nicht verlassen wollen.
In der „Sammelunterkunft“ sind bis 0.06 Uhr gerade mal 650 Menschen eingetroffen. In den betroffenen Stadtgebieten leben 8500 bis 10.000 Menschen. Die anderen sammeln sich wohl woanders.
Um 23.20 Uhr fahren dann Bullenwannen vor, um die letzten Renitenzler aus ihren Wohnungen zu räumen. Eine 82-jährige gehbehinderte Nachbarin erwischt’s. Sie hat nichts mitgekriegt von dem ganzen Quatsch und zum nächtlichen Pinkeln das Licht in ihrer Wohnung angemacht, was ein Feuerwehrbeamter vor dem Wohnhaus gesehen hat. Per Liegendtransport wird sie schimpfend und kreischend zum RTW geschleppt und aus ihrer „Gefahrenzone“ zwangsevakuiert. Grundrecht auf Selbstbestimmung? Ach was...
Wobei sich die Frage aufdrängt, warum eine Sperrung des „Gefahrengebiets“ um spätestens 16.33 Uhr unterblieben ist und erst ab 20.00 Uhr mit Ladenschluss begann. Wollte man da etwa den Liefer- und Warenverkehr auf der Wolfenbütteler Straße vor Unannehmlichkeiten bewahren? Oder die zahlreichen Geschäfte in der Innenstadt vor Umsatzeinbussen schützen?
Kommt zum Schluss noch das ganz große, philosophische Problem: Kann mich Jemand in einer schrecklichen, lebensbedrohenden Situation dazu zwingen, mich retten zu lassen? Selbstmord ist in Deutschland nicht verboten. Da kann der nette Schutzmann so lange klopfen, wie er will. Möge er mich in Ruhe lassen. Als mündiger Bürger darf ich auch darüber entscheiden, ob eine Fliegerbombe hinter’m Wallring mich mehr gefährdet als der tägliche Diesel-Feinstaub, gegen den die Stadt nichts unternimmt.
02.58 Uhr: Der Big Bang ist bisher ausgeblieben. Der Krisenreporter haut sich jetzt erstmal auf’s Ohr. Damit er morgen fit ist, wenn ein stolzer Oberbürgermeister erklärt, wie toll er diese Krise gemeistert hat.
Zur Grafik: Die Stadt Braunschweig wollte rund 8000 bis 10.000 BürgerInnen zwischen Eisenbütteler Straße und Domplatz evakuieren. Hauptbahnhof und das Polizeirevier in der Münzstraße waren nicht von den Massnahmen betroffen. Die Evakuierung begann erst, als die Geschäfte in der Innenstadt geschlossen wurden. Grafik: Stadt Braunschweig