„Die Nashörner“ im Staatstheater: Nicht die Ethik, sondern der Opportunismus bestimmt die Moral
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- Veröffentlicht: Sonntag, 27. Januar 2019 15:59
- Geschrieben von Klaus Knodt
Parvenues auf dem Bohlweg. Regisseur Diem versetzt „Die Nashörner“ in die Jetzt-Zeit. (v.l.n.r. Saskia Petzold, Heiner Take, Klaus Meininger, Götz van Ooyen, Mattias Schamberger). Foto: Staatstheater Braunschweig ©Thomas M. Jauk/Stage Picture
Die junge Larissa Semke brilliert als wandlungsfähige “Daisy” in einer mehrdimensionalen Rolle. Foto: Staatstheater Braunschweig ©Thomas M. Jauk/Stage Picture
Die Katastrophe ist zu erahnen. Ein zweites Nashorn taucht auf (symbolisch dargestellt durch Donner, Stroboskop-Blitze und Nebel). Ein Kätzchen wird von einem der Urviecher zu Tode getrampelt, was den Logiker (Heiner Take) nicht empathisch berührt, sondern sinnieren lässt: „Alle Katzen sind sterblich. Sokrates ist gestorben. Also ist Sokrates eine Katze“. Schliesslich verwandeln sich immer mehr Menschen in Nashörner. Behringers Freunde, Kollegen, Vorgesetzte: Sie offenbaren ihr wahres Ich als Psychophaten, Kraftmeier, Betrüger, gewissenlos systemangepasste Chefs oder Opportunisten. Als der Mann von Frau Ochs (Saskia Petzold) sich in ein Nashorn verwandelt, tröstet die Sekretärin Daisy sie (grossartig: Larissa Semke): „Das verwächst sich bestimmt wieder“. Und der Chef (Heiner Take) gibt der Unglücklichen den knallharten Tipp: „Wenn Sie sich scheiden lassen wollen, wäre das eine echt gute Gelegenheit.“
Komisch, aber hart am Klamauk vorbei: Das verwandelte Nashorn Hans (Johannes Kienast) verfolgt Behringer (Götz van Ooyen). Foto: Staatstheater Braunschweig ©Thomas M. Jauk/Stage Picture
Regisseur Christoph Diem hat Eugène Ionesco’s absurdes Schauspiel aus dem Jahr 1957 in der Jetzt-Zeit angesiedelt und nach Braunschweig verlegt. Und damit aus dem gern als Totalitarismus-Kritik verstandenen Stück ein springlebendiges Werk für die Neuzeit gemacht. Vor den Kulissen von „Schloss“, Bohlweg und 60-er Jahre-Bauten der Innenstadt seziert er die Stereotypen moralischer Beschränkt-heit: „Moral ist pervers“, setzt Hans dem Ideal Behringers entgegen, und Stech (Roman Koniezcny) piesakt ihn mit existenzialistischen Fragen, auf die er keine Antwort findet.
Der Besserwisser Wisser (Klaus Meininger), Behringer (Götz van Ooyen) und Chef Schmetterling (Heiner Take) analysieren das Geschehen rundum. Foto: Staatstheater Braunschweig ©Thomas M. Jauk/Stage Picture
„Es gibt mehrere Realitäten. Suchen wir uns die aus, die zu uns passen“ sagt Daisy, als sie sich von Behringer trennt. Als trostlos einziger Mensch, der neben der Horde Nashörner übrig bleibt, knickt Behringer ein: „Ich bin hässlich. Ich schäme mich.“
Da ist der Syllogismus des Logikers weiter gesponnen. Nashörner trampeln Katzen tot. Sokrates ist eine Katze. Also trampeln die Nashörner Sokrates tot.
Das richtige Handeln entspringt nicht mehr der Ethik, sondern der Masse. Auf Twitter, facebook, Instagram. „Tofu ist freundlich“ schreibt Diehm im Programm-heft und setzt den Satz in den Kontext zu Konformismus, Gier, Faulheit und Herdentrieb. Bestimmen wieder Feigheit und Opportunismus unsere Moral?
Final Countdown: Die Situation zwischen Daisy (Larissa Semke), Stech (Roman Konieczny) und Behringer (Götz van Ooyen) eskaliert. Staatstheater Braunschweig ©Thomas M. Jauk/Stage Picture
„Jein“ sagt ein erschreckter Kritiker. Diem hat sich den Aberwitz erlaubt, Claqeure im Publikum zu installieren. Die stehen plötzlich auf, zollen Zwischen-applaus und machen während der Vorstellung ihre Handy-Kameras an. Doch die Herde der Besucher reißen sie nicht mit. Die bleibt (gottlob) auf ihren Sitzen. Zu durchschaubar diese Inszenierung; oder: zu langweilig das Braunschweiger Publikum?
Langer Applaus für ein heute wieder sehr modernes Stück. Unbedingt ansehen. Die kurzweilige Inszenierung und die grandiosen Darsteller erhöhen das Vergnügen.