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Burgplatz-Carmen: You can’t Do That on Stage Anymore

Erinnert ein bisschen an die Madonna der 90-er Jahre: Eine überragende Carmen (Jelena Kordic) kann auch nichts dafür, dass die Regie ihre Freiheit beschränkt. Foto: stage picture Bettina Stöss

Was hätte! Was wäre! Was könnte! Ich nur sagen: Struuunz. Eine „Carmen“ verheißt Leidenschaft, unterschwellige Erotik, Knistern, Kampf, Tragik und Adrenalin, das man bis auf den 8. Rang hinauf riecht. Manch Mutter meidet den Namen für das Töchterlein, das dann als „Wiebke“ („Weibchen“) durch die Welt mäandern muss – nur, um nicht als proletarische femme fatale zu enden. Bei der Braunschweiger „Burgplatz“-Carmen hingegen hört man kaum noch den Schuss, der die Titelheldin meuchelt.

 Im Wetteifern um den originellsten „Carmen“-Tod liegt Regisseur Regisseur Philipp M. Krenn ziemlich abgeschlagen im Feld hinter dem klassischen Erdolchen, Ertränken (neulich irgendwo in Österreich), Hexenverbrennen, Kopfabhacken und politisch motivierten Füsilieren. In Braunschweig wird das Mädel im kriminalistisch-klassisch „erweiterten Suizid“ vom Lover erschossen – Peng, und die Oper ist aus. Warum vorenthält uns der Regisseur diesen Knalleffekt drei Stunden lang?

 

Großes Finale unter dem Löwen, der diesmal verhüllt bleibt. Foto: stage picture Bettina Stöss

Wohl, weil er ja noch die heiß ersehnten Hits einbauen musste: die „Habanera“, die Arie der Micaela (brillant nuancierend, zum Tränenfliessen berührend und mit viel zu wenig Sonderbeifall bedacht: Ekaterina Kudryavteseva), den Chor auf den Matador Escamillo („Auf in den Kampf, Torreheeheeheeroh“). Diese Reminiszenzen an das Opern-Original eines Herrn Bizet hat man Krenn wohl glücklicher Weise in den Vertrag geschrieben, dazu noch die betörende Zwei-Oktaven-Stimmakrobatik einer gezwungen bienenfleissigen Titelheldin (Jelena Kordic). Sie kann nichts dafür, dass sie hübsch aussehen, über wackelige Schiffsplanken balancieren, mimisch agieren und dann auch noch singen muss. Alles gleichzeitig. Da bleibt zwangsläufig ein Task unerledigt. Würde sie nicht an ein angeseheneres Haus in Mannheim wechseln, gehörte ihr ein Tanzkärtchen zugesteckt!

Die meistgespielte Oper der Welt findet diesmal, neue Ideen sind immer willkommen, auf einem Sperrmüllhaufen statt. Der symbolisiert für die mitteldiplomierten Mittelschichts-Pädagogen, die das Ganze kreiert haben, offenbar den Heimatort des zu erweckenden Prekariats. Da rennt einer rum wie „Neger-Kalle“ (90-er-Jahre Unterwelt-Ikone), und statt im Bäh-bäh-bäh-Stierkampf fechtet man Todessehnsucht im herz- und kumpelhaften Armdrücken aus. „Carmen“ darf natürlich kein rotes Kleid tragen (wäre ja voll uncool retro und sexistisch) und muss sich in Goldflitter-Tops zwängen, die sogar H&M nach Bangladesh zurück schicken würde – eine einzige Kakophonie geistiger Wohlmeinungsverhaltens-Wirrnis. „Vorwärts nimmer, rückwärts auch nimmer“ hätte Herr Honecker aus dem Lampenladen gesagt.

 

Um Jugendliche zu erreichen, gehört Stage-Diving einfach dazu. Toller Gag. Foto: stage picture Bettina Stöss

So eine Art Reminiszenz an weichgespülte Gesellschaftskritik der 90-er in den ersten Michael Jackson-Videos. Leider ohne brennende Mülltonnen. Die hätten der Inszenierung noch etwas Feuer gegeben, das auch ein allzu brav, aber fehlerfrei spielendes Orchester unter Srba Dinic nicht zu entzünden vermag – zu allmächtig hängt im Arenenrund auf Flatscreens des Dirigenten Taktstock öffentlich aus. Da sieht jeder auf der Bühne, welche Fehler das Publikum sofort per Handy dokumentieren kann. Kunst meets Bundesfacebook: Lieber gar nichts, als was Falsches machen. Willkommen in der Sterilität.

Open-Air-Winde müssen nicht zwangsläufig durchlüften. Der Odeur 20 Jahre alter Genderkacke durchzieht eine fade Inszenierung von Abzuberufenden, die die Person Carmen als Opfer einer „chauvinistischen, frauenverachtenden Welt“ sehen wollen, die als Migrantin aus dem Sind „von massiver Ausgrenzung betroffen“ ist (Programmheft, nicht lesen, gähhhn!). Wer mit solcher Voreinstellung an dieses sinnenfrohe Liebesdrama shakespearescher Tiefe herantritt, muss sich nicht wundern, wenn er im Bett allein frustriert. Ein Don José (Kwonsoo Jeon, klingt auch gesanglich wie ein Handy) bräuchte cojones und kein Hinghong-Schönsing-Diplom im wohltemperierten Klavierbegleiten. Hat er aber nicht.

Weil die Staatstheater-Regie der Braunschweiger „Carmen“-Inszenierung die Handlung des Stückes nicht erkennen läßt, hat der braunschweig-spiegel hier nochmal das Stück stand-by gestellt: https://www.srf.ch/kultur/musik/opernfuehrer/die-drei-schoensten-arien-aus-carmen

Die erste „Carmen“-Inszenierung auf dem Braunschweiger Burgplatz 2003 hat das Herz und die Seele der Menschen berührt. Über dem Remake steht: „You can’t do That on Stage Anymore“ (Frank Zappa)

 

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