Leserbrief zu "Bad Benzos" - Cass Abschiedsbotschaft an die Welt

Heute erreicht den Braunschweig-Spiegel ein Leserbrief des braunschweiger Arztes Dr. Bernhard Piest. Er nimmt Stellung zu dem erschütternden Zeugnis von Cass und ihrer Abschiedsbotschaft. (red)

Kommentar aus medizinischer Sicht zu: 

„Bad Benzos“ – Cass Abschiedsbotschaft an die Welt 

Ein Satz vorweg: Ich werde keine Stellung beziehen zu Cass‘ Entscheidung, sich das Leben zu nehmen und zu ihrem Hadern mit der Situation, dass ihr keine Beihilfe zur Selbsttötung gewährt wird. Mir geht es um ihre lange Leidensgeschichte.

Die Vielzahl der Symptome von Cass sind für einen Gesunden nicht nachzuempfinden, vor allem wenn man bedenkt, dass viele von ihnen gleichzeitig auftreten, nur mit unterschiedlicher Intensität, so dass zeitweise das eine, zeitweise das andere Symptom im Vordergrund steht. Das Leben nach Beginn ihrer Benzodiazepin-Abhängigkeit war für Cass tagsüber eine Dauerfolter, und auch die Nacht brachte für sie wegen der Schlaflosigkeit keine Erholung. Cass übertreibt nicht: Fast alle der aufgezählten Symptome gehören zum Benzodiazepin-Entzugssyndrom, einige zu ihrer Bipolaren Störung (Wechsel zwischen Depression und Manie) und wenige sind wahrscheinlich Folge von phasenhaft aufgetretenen Überdosierungen. Es ist richtig, dass die Abhängigkeit bereits nach wenigen Wochen auftreten kann (etwa bei 50% der Patienten nach längerer Einnahme) und eine Entgiftung oft sehr schwierig ist und Zeiträume von 1 bis 2 Jahren einkalkuliert werden müssen.

Was ist passiert? Cass ist durch die Schuld der Ärzte krank geworden. Die Ärzte waren ihre Folterknechte. Es ist erstaunlich, dass keine aggressiven oder anklagenden Sätze in dem Brief fallen. Die Ärzte erscheinen in einer Kombination aus Inkompetenz und Ignoranz.

Das Verlockende an den Benzodiazepinen ist die schnelle Wirkung. Schon nach der ersten Tabletteneinnahme spüren die Patienten Linderung von Ängsten, Unruhe, Schlafstörungen, und diese hohe Effektivität verführt Ärzte zu viel zu langen Therapien, oder sie haben keine Kenntnis von der richtigen Anwendung.

Kann so eine Geschichte in Deutschland passieren? Es besteht nicht nur die Möglichkeit, es passiert laufend. Es gibt in Deutschland etwa 1,5 Millionen „Benzoabhängige“, sicherlich sind nicht alle so schwer krank wie Cass. Und auch in Deutschland ist es schwer, Ärzte zu finden, die über die Therapie des Entzugssyndroms gut Bescheid wissen. Der Grund dafür liegt einerseits an der gesellschaftlichen Stigmatisierung der Suchtkranken, die auch heute noch von vielen als charakterschwach wahrgenommen und ausgegrenzt werden. Auch Ärzte sind Teil der Gesellschaft und in den Praxen einschließlich der psychiatrischen sind Suchtkranke oft nicht willkommen. Zum anderen ist die Medizin gerätetechnisch- und medikamentenorientiert, das ärztliche Gespräch wird zweitrangig bewertet. Und gerade medikamentenabhängige Patienten benötigen viel Zeit für das Gespräch.

Die Betroffenen sollten sich unter Umständen von dem Arzt trennen, der ihnen die Benzos verordnet, und an einer anderen Stelle sich um eine Lösung des Problems, d.h. Entgiftung und Entwöhnung, bemühen. Eine Klage wegen Falschbehandlung ist möglich. In einem Artikel aus „Die Zeit“ (15.1.2004) schreibt A. Wüsthoff, dass ein Patient, der seinen Benzo-Arzt wegen Falschbehandlung verklagt hatte, 75 000 € Schmerzensgeld zugesprochen bekam. Ein kleines Trostpflaster für eine meist jahrelange Tortur.