Lebenswert oder zurückgeblieben? Zur Stadtbahndebatte um Lehndorf

Foto: Stefan Vockrodt

Ich könnte jetzt ätzend etwas über Dichtung, Wahrheit und Volksverdummung schreiben, doch ich versuche – auch wenn's schwerfällt – weitgehend sachlich zu sein.

Der Rat der Stadt Braunschweig befasst sich bald mit den Ergebnissen der ersten Bürgerbeteiligung zum Stadtbahnkonzept. Die vorliegende Auswahl sieht folgende Neubautrassen als unbedingt vordringlich an:

-        die westliche Innenstadtstrecke

-        die Neubaustrecke Radeklint – Klinikum Celler Str. – Lehndorf – Kanzlerfeld mit einem Abzweig von Lehndorf nach Lamme

-        die (schon 1960 geplante!) Neubaustrecke Hauptbahnhof – Salzdahlumer Straße – Heidberg

 Des Weiteren stehen noch die Verlängerung der Linie M3 in Volkmarode sowie Neubauten nach Querum, im Südosten (Mascherode, Rautheim) und über den Madamenweg, auf dem bis 1954 die alte Linie 4 verkehrte, mit zweiter Prioritätsstufe im Plan. Um den Spargel-Express nach Wendeburg soll es an dieser Stelle nicht gehen.

 Unter dem Namen „Lebenswertes Lehndorf“ hat sich eine Bürgerinitiative etabliert, die die Stadtbahn nach Lehndorf um jeden Preis – verhindern will! Diese BI ist durchaus rührig und vertritt ihre Position mit einer Penetranz, die an dieser Stelle eine Würdigung verdient. Manches davon entstammt der Mottenkiste der autogerechten Stadt der 50er Jahre, ist also etwas hinter der Zeit zurückgeblieben.

In einem Papier unter dem Obertitel „Straßenbahn in Braunschweig – Wirklich gute Gründe?“ wird eine Reihe von Behauptungen aufgelistet, die sich bei näherer Betrachtung als Scheinargumente, Falschbehauptungen und zum Teil dreiste Lügen entpuppen.

So schaffe die Straßenbahn nach Lehndorf „Überkapazitäten“, in deren Folge das Angebot verschlechtert würde. Nun weiß jeder, der regelmäßig den ÖPNV nutzt, dass – sogar in Braunschweig – eine Straßenbahn immer eine höhere Beförderungsqualität und mehr Komfort bietet als der Bus. Betrachtet man die bundesweite Entwicklung (ich will hier nicht von Frankreich oder gar China anfangen, wo derzeit neue Straßenbahnen in Serie gebaut werden), so zeigt sich, dass jeder Ersatz einer Buslinie durch eine Straßenbahn zu einer drastischen Steigerung der Fahrgastnachfrage um durchschnittlich 50 – 100 % geführt hat, oft sogar mehr. Dies gilt auch für die letzten Braunschweiger Ausbauten Richtung Stöckheim und sogar nach Wenden!

 Die BI behauptet, Oberleitungen und Schienen „(zer)stören das Stadtbild historischer Ensembles und Straßenzüge“. Dies mag in Einzelfällen zutreffen. In Braunschweig sehe ich zumindest in den Vororten nichts dergleichen. Und Schienen wie Oberleitungen stören keineswegs das historische Bild – vielleicht fahren die Lehndorfer einmal nach Freiburg und schauen sich an, wie gut Trams mit historischen Ensembles harmonieren. Sie dürfen dann gerne die Reise in Basel, Mülhausen (Elsass) und Straßburg fortsetzen ...

Die nächste Behauptung zeugt mindestens von Uninformiertheit, wenn nicht gar Verlogenheit der Autoren des Papiers, die namentlich nicht auftreten. Auch wenn ÖPNV hierzulande nicht kostendeckend betrieben wird, so haben kommunale Verkehrsbetriebe, die wie z.B. in Kassel in den letzten Jahren massiv auf die Schiene gesetzt haben, ihr wirtschaftliches Ergebnis drastisch verbessert. Solche Betriebe erreichen Kostendeckungsgrade von 90% und mehr – hier sei ein kleiner Vergleich gestattet (s. pdf: Vergleich_BsVAG_2012, Quelle 1)), der zeigt, dass Städte mit Tram einen wesentlich besser genutzten ÖPNV haben als solche ohne. In Halle nutzte im Jahr 2012 jeder Einwohner im Schnitt 228 mal den ÖPNV, in Lübeck, das die Tram 1959 abschaffte, nur 109 mal, also weniger als die Hälfte. Von Lübeck und Münster waren auf die Kürze leider keine aktuellen Kostendeckungsgrade ermittelbar.

Mit ein wenig Recherche hätten die Autoren der Lehndorfer BI diese Fakten selbst eruieren können. Es passt wohl nicht ins Konzept.

Dann behauptet die BI, eine Straßenbahn produziere soviel Feinstaub wie der Straßenverkehr und beziehen sich dabei auf Wien. Die Untersuchung, aus der die Autoren ihre Behauptung haben, ist eine Studienarbeit, die inzwischen falsifiziert worden ist. Fakt ist, dass durch den Bremssand auch Feinstaubbelastungen hervorgerufen werden, doch diese sind wesentlich niedriger als durch den Straßenverkehr. Wo treten in Braunschweig denn die höchsten Feinstaubwerte auf? Dort, wo der Straßenverkehr am stärksten ist, so auf dem östlichen Ring und nicht etwa am Hagenmarkt, der die höchste Straßenbahnbremssandbelastung haben dürfte. Von anderen Belastungen des Straßenverkehrs wie Stickoxid- und Rußemissionen schweigt die BI.

 Die BI behauptet weiter, eine Tram stoße höhere CO2-Emissionen aus als ein Bus, natürlich wieder ohne Quellenbeleg. Mittlerweile fast ein Dutzend Städte in Deutschland – darunter auch Braunschweig – beziehen den Strom für ihre Trams ausschließlich aus erneuerbaren Quellen, also CO2-frei.

 Nun lässt die BI sich ausführlich über den Lärm aus, so müssten Schienen alle 1-2 Wochen nachgeschliffen werden (den Quatsch kommentiere ich nicht!), in engen Kurven erhöhe sich die Lärmemission, was stimmt, aber leicht bekämpft werden kann, und neue Niederflurbahnen seien lauter als alte Trams, was jeder, der die Braunschweiger Trams kennt, widerlegen wird. Dazu stelle man sich einmal an die Friedrich-Wilhelmstraße, wo die Trams sehr langsam und von daher schon sehr leise fahren und vergleiche. Auch Einzelwerte an engen Betriebshofausfahrten ändern nichts daran, dass sich Tram und Bus in der Lärmbelastung nichts nehmen und auch nicht daran, dass die größte Lärmquelle in Wohnquartieren nach wie vor der Pkw-Verkehr ist …

 Und jetzt wird es grotesk: „Der eigene Fahrweg steht an entscheidenden Punkten der geplanten Streckenführung ohne Infarkt des bestehenden Systems nicht zur Verfügung, ein Zeitvorteil ist nicht erzielbar.“ Ich versuche mal eine Interpretation: Wenn also, zum Beispiel am Saarplatz, die Tram eine eigene Spur bekommt und diese bis in die Innenstadt beibehält, so wird sie dadurch langsamer, das die Autos auf den Autospuren im Stau stehen? Ist das gemeint, so ist es schlicht hanebüchen. Klingt fies, aber ist durchaus erwünscht: Gerade weil der PKW-Verkehr verlangsamt wird, gewinnen die Öffi-Nutzer, hier also Tramfahrgäste, einen Vorsprung. Nach ein, zwei Jahren werden nur noch fanatische Tramhasser wie die Verfasser des BI-Pamphlets wohl vor der Ampel warten, bis die Tram durch ist …

 

Weiter zitieren die Verfasser eine Studie des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, die sich schwerpunktmäßig mit der Situation schrumpfender Städte und dort speziell den Plattenbausiedlungen befasste (das erwähnen die Verfasser natürlich nicht). Die untersuchten Städte waren Bremen, Chemnitz, Cottbus, Frankfurt/Oder, Bochum und Halle/Saale: allesamt mit großen Infrastrukturproblemen und hoher Abwanderung. Die betroffenen Gebiete sind überwiegend Großbausiedlungen (Platte) aus den 1970er-, 1980er-Jahren, die damals mit neuen Stadtbahnen erschlossen wurden und wo es jüngst zu Rückbauten infolge massivem Einwohnerschwunds gekommen ist.

Die BI zitiert auszugsweise Seite 9 der Studie 2), ich füge kursiv die von den Verfassern der BI ausgelassenen Teile wieder ein: „So wurde in Gesprächen in den Fallbeispielstädten oft deutlich, dass in integrierten Lagen mit guten Straßenbahnanschluss zuerst die Wohnungen sukzessive und freiwillig verlassen wurden und es erst in der Folge zum Rückbau kam. Der Wegzug aus solchen Lagen wird auch durch Verkehrslärm verursacht, wie er von Hauptverbindungen im Kfz-Verkehr, die zusätzlich den Straßenbahnverkehr mit aufnehmen, ausgeht. Dort, wo genug ruhige Wohnalternativen zur Verfügung stehen, verfallen entsprechende Magistralen schnell. Grund für den Wegzug ist aus Sicht der Kommunen nicht die Straßenbahntrasse, sondern die gesamte verkehrliche Lärm- und Emissionssituation sowie die Stadtraumqualität.

Der letzte, von mir kursiv zitierte Satz ist entscheidend, aber der interessiert die Lehndorfer BI nicht – oder stört er nur? Ich zitiere diese Stelle der Studie noch unmittelbar weiter: „Das ÖPNV-System „spürt“ im Anschluss die Nachfrageauswirkungen dieser „Abstimmung mit den Füßen“ gegen unattraktive Stadträume. Die Minderung negativer verkehrlicher Wirkungen des Kfz-Verkehrs und eine attraktive Straßenraumgestaltung an ÖPNV-Anlagen sind für die Sicherung der Bewohnbarkeit unerlässlich und sollten weiterhin Ziel des Stadtumbaus sein.“ (ebenda S.9).

Ist das nun nur ungenaues Zitieren oder übler Vorsatz?

Kleiner Hinweis: In Frankreich baut man, wenn neue Tramstrecken entstehen wie jüngst rund um das alte Paris, die großen Straßen massiv zurück, aus sechs Fahrspuren werden zwei, es entstehen Rasengleise, breite Flaniertrottoirs und Radwege mit schönen jungen Alleebäumen. Abwanderung? Von wegen!

 Noch eines zum Schluss: Mit keinem Wort gehen die Autoren der BI auf die Situation ihrer Nachbarn in Lamme bzw. dem Kanzlerfeld oder im Rudeolfstraßenquartier ein – die interessieren sie nicht, die würden ebenso wie die meisten Lehndorfer nämlich von der Tram profitieren. Wer die Situation in der 411 kennt, der weiß, dass gerade ab Rudolfplatz die Busse auch in der Nebenverkehrszeit sehr gut besetzt sind – ein sicheres Indiz für die Tramfähigkeit der Linie.

 Bei der BI „Lebenswertes Lehndorf“ handelt es sich um klassische „NIMBYs“ (NIMBY: Not in my Backyard, früher auch als St.Florians-Prinzip bekannt), die keine Tram vor ihrem Parkplatz wollen. Denn wäre auch nur die Hälfte dessen, was sie anführen, zutreffend, wo bleibt ihre Schlussfolgerung: Weg mit der Straßenbahn in Braunschweig? Die Damen und Herren dieser BI wollen nur weiter mit ihrem PKW bequem in die Stadt fahren, dort die Bürgersteige zuparken und den Anwohnern Lärm und Abgase in die Fenster pusten und ansonsten ihre Gartenzwerge pflegen …

Würden Sie sich auf ihre Sorgen wegen der Lindenallee Saarstraße oder ihre Angst, dass die Neunkirchener Straße im Falle des Baues der Tram nach Lamme evtl. doch vierspurig ausgebaut würde, beschränken und dies in den Vordergrund rücken, es gäbe eine brauchbare Gesprächsgrundlage – doch so?

Lehndorf – lebenswert? Vielleicht, mit Tram sicher! Und mal ehrlich: wäre vor 20 Jahren die Strecke gebaut worden, die Lindenallee wäre heute wieder hoch – doch niemand will die Bäume abholzen. Und dass sich alte Bäume und Stadtbahngleise gut vertragen, kann man auf dem Altewiekring vor der Stadthalle sehen, dort liegt ein recht gutes Beispiel – sind zwar Platanen – wenn ich nicht irre, aber denen setzt Streusalz genauso zu wie Linden. Und Streusalz gibt es nicht bei der Tram.

Es gibt bereits detailliert ausgearbeitete Vorschläge, die die Trasse auf der Saarstraße mit den vorhandenen Bäumen vereinen ...

Quellenhinweise:

 1): Zahlen aus VDV-Statistik 2012 und (für Braunschweig): de.wikipedia.org

2): Stadtumbau und Stadtverkehr, BMVBS-Online-Publikation Nr. 10/2011

 


Kommentare   
 
-5 #9 Karl Grziwa 2014-04-11 10:30
Schade eigentlich. Als ehrenamtliches Mitglied im Stadtbezirksrat wolle ich sachliche und fachliche Argumente lesen, die gegen und für das Stadtbahnausbau konzept sprechen. Stattdessen werden Bürgerinnen und Bürger aus Lehndorf diskriminiert und als "ewig gestrige" bezeichnet. Das hilft mir bei meinen Entscheidungen nicht weiter. Deshalb brauche ich dieses Forum nicht mehr. Im Übrigen geht es nicht um Lehndorf sondern um eine intelligente Anbindung von Lamme. Dabei sollte auch berücksichtigt werden, dass es sich um einen sehr jungen Stadtteil handelt, der für unsere Kinder auch eine Anbindung an eine weiterführende Schule (z.B. IGS Weststadt ) benötigt.