Gedenkstätte Wolfenbüttel: „Den Opfern Gesicht und Würde geben“

 


Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta (2. v. rechts) lässt sich am Modell die Gedenkstätte von JVA-Leiter Dieter Münzebrock und Martina Staats erklären. Dabei die  Wolfenbütteler Landtagsabgeordnete Dunja Kreiser (SPD, links). Foto: Klaus Knodt

Orte, an denen Menschen umgebracht wurden, sind immer beklemmend. Das mögen mittelalterliche Richtstätten sein wie im Lechlumer Holz, Konzentrationslager, oder auch  Joggingpfade am Rand eines Bachlaufs. Auch das Gefängnis Wolfenbüttel gehört in diese Liste. Menschen starben dort gewaltsam! Oft als unschuldige Opfer der Nazijustiz! Dr. Helmut Kramer, ehemaliger Richter am Oberlandesgericht und Rechtshistoriker aus Wolfenbüttel, hat die Geschichte der Nazijustiz teilweise bearbeitet. Es bleibt aber in der Aufarbeitung, insbesondere hinsichtlich der Täterbiographien, noch viel zu tun für die Gedenkstätte. Beispielhaft sei hier die Biographie des Blutrichters Dr. Werner Hülle genannt.

 

Für die Delinquenten in der Todeshaftzelle war dies der letzte Blick in die Freiheit vor ihrer Hinrichtung. Foto: Klaus Knodt

Niedersachsens Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta besuchte im Rahmen ihrer diesjährigen Sommerreise auch die Gedenkstätte in der heutigen Justizvollzugsanstalt WF. 527 Todesurteile an Männern und Frauen wurden dort in der Zeit des Nationalsozialismus vollstreckt; auch an (nach heutigem Rechtsverständnis bedingt strafmündigen) Heranwachsenden. „Es waren nicht durchweg, aber häufig ‚Unrechtsurteile’ nach heutiger Auffassung“, so Dieter Münzebrock, Leiter der JVA Wolfenbüttel. „Hier wurden Mörder, aber auch Menschen nach dreifachem Diebstahl exekutiert, weil sie unter der nationalsozialistischen Justiz als ‚gefährliche Gewohnheitsverbrecher’ galten.“ Anrührend das Schicksal der 19-jährigen Erna Wazinski (siehe auch Wikipedia): Ihr Leben endete 1944 in Wolfenbüttel unter dem Fallbeil, nachdem eine Nachbarin sie wegen angeblicher Plünderung bei dem schweren Bombenangriff in Braunschweig als „Volksschädling“ denunziert hatte. Erna Wazinski wurde nach langen Kampf des Richters Dr. Helmut Kramer vor Braunschweiger Gerichten, Jahrzehnte später posthum freigesprochen. Schon 1937 war das vormals reine Strafgefängnis in WF zur „zentralen Hinrichtungsstätte“ für das Land Braunschweig umgebaut worden, um dem zynisch vorausberechneten erhöhten Bedarf an Exekutionen zu genügen.

In Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Landesarchiv hat die Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten unter Projektleiterin Martina Staats die Geschichte akribisch aufgearbeitet. „Nach Wolfenbüttel wurden während der NS-Zeit rund 15.000 Menschen zugewiesen. Zunächst waren es Widerständler mit Haftstrafen bis zu zwei Jahren, dann vermehrt politisch Verfolgte, Homosexuelle und schliesslich auch ausländische Widerstandskämpfer aus Frankreich, den Benelux-Staaten und Norwegen.“ Die für 1000 Personen ausgelegte Haftanstalt war zeitweise doppelt überbelegt. Neben den Hingerichteten starben auch Gefangene an den unzumutbaren Haftbedingungen.

Per Se ist die Todesstrafe grausam, inhuman und ungerecht. Auch wenn sie „legitimiert“  ausgeübt wird. Denn sie stellt die Prinzipien der Rache und Sühne über die der christlichen Vergebung, der sozialen Ethik und des tatursächlichen Verstehens. Dennoch haben die Hinrichtungen in Wolfenbüttel kaum Protest in der Bevölkerung hervorgerufen. „Wie kommt es, dass die Menschen davon wussten, es hingenommen, sogar davon proftiert haben?“ fragte daher Landtagspräsidentin Andretta, und berührt damit den Zwiespalt in der Gedächtniskultur: Die Todesstrafe für Verbrechen war in den 30-er und 40-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts allgemein weltweit gesellschaftsfähig. Auch die britische Besatzungsmacht  als „Sieger“ des 2. Weltkriegs nutzte die Wolfenbütteler Guillotine noch als Hinrichtungswerkzeug und exekutierte damit zwischen 1945 und 1947 67 Kriegs- und Gewaltverbrecher, Verräter und Plünderer. Kaum in Frage gestellt wurde je, ob die Justiz die Todesstrafe gerecht verhängt hatte. Was in Konzentrationslagern wie Bergen-Belsen schnell als Mord entlarvt wurde, blieb hinter den Gefängnismauern von Wolfenbüttel noch Jahrzehnte später „gerechte Strafe“.

 

Viele Delinquenten in Wolfenbüttel starben unter dieser Guillotine. Militärische Mannschaftsdienstgrade wurden durch Hängen an einem Kälberstrick erdrosselt. Ihr qualvoller, oft mehrminütiger Todeskampf sollte ihnen die Würde nehmen und abschrecken. Repro: Klaus Knodt

Das multimediale Ausstellungscenter mit Touch-Screen-Tischen hilft, diese auch von der Justiz lange behütete Legende zu entlarven. Anhand zahlreicher Dokumente erschliesst sich exemplarisch die Beteiligung der deutschen Justiz und des Strafvollzugs am nationalsozialistischen Terror- und Verfolgungssystem mit seinen Willkürurteilen oder Urteilen auf Basis politischer Verfügungen. Die personellen Kontinuitäten im Justizdienst sowie bei der Verfolgung von Homosexuellen und Kommunisten bis in die 60-er Jahre der Bundesrepublik werden ebenfalls beleuchtet.

Ab Sommer 2019 wird die neu konzeptionierte Dauerausstellung der Öffentlichkeit frei zugänglich sein. Landtagspräsidentin Andretta erklärte, sie wolle im Rahmen ihrer Sommerreise ganz bewusst die pädagogische Gedenkstättenarbeit in den Mittelpunkt stellen: „Die Zukunft unserer Demokratie liegt in den Händen der jungen Generation. Wie kann sie die Erinnerungskultur für sich annehmen, in ihrem Sinne gestalten und fortführen? Das halte ich für eine wichtige Zukunftsfrage, gerade mit Blick auf den wieder erstarkenden Antisemitismus. Geschichte darf sich nicht wiederholen.“ ZeitzeugInnen, die Jahrzehnte die Erinnerung an den Schrecken des Nationalsozialismus wach gehalten hätten, seien mittlerweile hochbetagt. Deswegen wolle Sie sich über die neuen Wege der Gedenkstätten, Inhalte zu vermitteln und junge Menschen anzusprechen, informieren und austauschen. In der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel würden diese neuen Wege bereits betreten. Gedenkstätten-Leiterin Martina Staats berichtete: „Wir konnten Kontakt zu Angehörigen von Opfern aufnehmen, deren Familien Jahrzehnte aus Scham geschwiegen haben.“ So sei es gelungen, den Opfern „ein Gesicht und Würde“ zu geben (Andretta).

Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta trägt sich ins Gästebuch der Gedenkstätte ein. Foto: Klaus Knodt

Zum 5 Millionen Euro teuren Gedenkstätten-Konzept einschliesslich 350 Quadratmeter großem Ausstellungs-Neubau, der zum Teil über die Gefängnismauer hinausragen soll (geplante Fertigstellung Mitte 2019) gehören auch die vorsichtig restaurierten historischen Räume der Hinrichtungsstätte; erst durch interessierte Bürger vor dem Abriss gerettet. Die Landtagspräsidentin besichtigte tief bewegt die „Todeshaftzellen“, in denen die Delinquenten ihre letzten Stunden verbrachten – und den Hinrichtungsraum, in dem der ehemalige Fuhrunternehmer Friedrich Hehr sein Gewerbe als Henker freiberuflich ausübte. Zwischen Köln und Breslau führte er bis zu 20 Exekutionen täglich durch. Die britische Militärverwaltung übernahm den Fachmann in Sachen Tod ab 1945 in ihren Dienst. Er verdiente pro Auftrag etwa soviel, wie ein Landarbeiter im ganzen Monat. Gestorben ist er friedlich im Jahr 1952. Und auch die Uniklinik Göttingen profitierte von der Tötungsstätte in Wolfenbüttel. Für ihre Medizin-StudentInnen erhielt sie rund 200 Hingerichtete als „Seziermodelle“.