Buchbesprechung: "Gekaufte Zeit" von Wolfgang Streeck
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- Veröffentlicht: Sonntag, 21. Juli 2013 00:15
- Geschrieben von Ingeborg Gerlach
„Was nun, Europa?“
Zu einer politisch-ökonomischen Kontroverse im fünften Jahr der Schuldenkrise
„Die gegenwärtige Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise ist der vorläufige Endpunkt der langen neoliberalen Transformation des Nachkriegskapitalismus.“ So beginnt der Kölner Soziologieprofessor Wolfgang Streeck einen Essay in der Aprilnummer der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, der einen Teil des Schlusskapitels seines neuen Buches „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise“ (Berlin 2013) darstellt. Seine Hauptthese: Der demokratisch legitimierte „Steuerstaat“ früherer Jahrzehnte ist durch den neoliberalen Umbau des Staates seit den achtziger Jahren zum Schuldenstaat geworden. Er kann nur noch existieren, wie es Streeck darlegt, indem das einzige, Geld, das noch zur Verfügung steht, „das ganz und gar virtuelle Geld der Zentralbank“ ist, und die einzige verbliebene Autorität der Zentralbankpräsident, der nicht von ungefähr ein ehemaliger Direktor von Goldman Sachs ist.
Damit sei aus dem einstigen Miteinander von Demokratie und Kapitalismus (Streeck verweist auf die späten vierziger bis siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts) die Phase des ´Durchregierens´ und der ´Marktgerechtigkeit´.geworden. „So wandert die Macht“, konstatiert Streeck, „zumindest für die nähere Zukunft, zu den Draghis und Bernankes und ihren Technokratien“.Mit immer neuen Tricks versuchten sie einWiederaufpäppeln des 2008 gescheiterten Schuldenkapitalismus. Doch sie könnten sich nur neue Zeit kaufen, kein echtes Wachstum mehr generieren. Das einstige Miteinander von Kapitalismus und Demokratie sei gescheitert. Es drohe ein totaler Kapitalismus ohne Demokratie. Und hier erhebt sich nun die Frage, wie es mit Europa weitergehen solle. Streeck sucht in seinem Pessimismus eine rückwärts gewandte Lösung: Es ist der Nationalstaat keynesianischer Prägung, der sich ihm als Retter anbietet. Denn nicht nur der Euro, auch Europa sei gescheitert. Streeck sieht in der – schwer zu erkämpfenden – Rückkehr zu demokratischen Institutionen die einzige Möglichkeit, der Dauerkrise zu entkommen.
Dazu bedürfte es zumindest „jahrelanger politischer Mobilisierung und dauerhafter Störungen der gegenwärtig sich herausbildenden sozialen Ordnung“ Streeck empfindet eine gewisse Sympathie für die Wutausbrüche auf der Straße: “Wenn demokratisch organisierte Staatsvölker sich nur noch dadurch verantwortlich verhalten können, dass sie […] sich für Generationen darauf beschränken, ihre Zahlungsfähigkeit gegenüber ihren Geldgebern zu sichern, könnte es verantwortlicher erscheinen, es auch einmal mit unverantwortlichem Handeln zu versuchen“, konstatiert er.
Das ist für einen Ordinarius ungewöhnlich deutlich. Allerdings weiß auch er kein handelndes Subjekt eines solchen Prozesses zu nennen. Offensichtlich liegt Streecks Stärke eher in der Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse als dem Aufzeigen neuer Möglichkeiten.
Jürgen Habermas hat auf Streeck in der Mai-Nummer der „Blätter“ reagiert und ein politisches, demokratisch kontrolliertes Europa verlangt. Im Kontrast zu Streeck übt er sich in nicht sehr begründetem Optimismus und verweist auf die Lernfähigkeit Europas, die sich im Falle Zyperns schon gezeigt habe.
In der gleichen Nummer der „Blätter“ postuliert Elmar Altvater, gleichfalls als Antwort auf Streeck, den „politischen Euro“. Er plädiert für eine Vertiefung der Eurozone: „Es geht also gar nicht anders, als der voreilig geschaffenen Gemeinschaftswährung das Gemeinwesen mit Fiskal- und Sozialpolitik sozusagen nachzuliefern.“ Angesichts der Globalisierung und der wirtschaftlichen Konkurrenz insbesondere der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) sei die Rückkehr zur nationalen Wirtschaft ein Unding.
Aber es sieht nicht so aus, als ob die politisch Verantwortlichen sich um die theoretischen Vorschläge der Herren Professoren kümmerten. Vielleicht kommt Streeck mit seinem politisch unkorrekten Hinweis einer Lösung am nächsten.