Westliche Zivilisation: Eine massive kulturelle Krise, die Krise einer global exportierten Kultur

"... oder die Verdrängung unserer kulturellen Krise"

Gibt es eigentlich gesellschaftspolitische Bereiche, in denen es keine Krisen oder krisenhafte Entwicklungen gibt? Es scheint müßig zu sein, all die Krisen, seien sie international, national, regional, kommunal oder familiär, aufzuzählen. Es wäre eine endlose Folge. In einem Beitrag befasst sich Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Finke, emeritierter Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld mit der kulturellen Krise, die im Grunde die eigentliche Ursache ist. Anschließend ein Auszug aus seinem Aufsatz. Der vollständige Beitrag ist hier zu lesen.(Red.)

"Wenn jemand heute von "der Krise" redet, dann meint er in der Regel die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise. Der Irrtum fängt schon damit an, die erkannten Krisen nicht in einen Zusammenhang zu stellen. Was soll schon die Finanzkrise mit der Bildungskrise zu tun haben?! Jene ist von unverantwortlich handelnden Bankern ausgelöst worden, diese von Politikern, die jahrzehntelang fast alles wichtiger fanden als in Kindergärten, Schulen und Universitäten zu investieren. Und dann erst die Umweltkrise. Wenn sie jemand ausgelöst hat, dann am ehesten wir alle miteinander, mit verteilten Rollen, also kein Bürokrat, kein Manager, kein Unternehmer und kein Parteipolitiker allein. Beruhigung durch verteilte Schuldzuweisungen, zugleich Benennung derer, die sich um ihre jeweils eigene Krise kümmern sollen. Wie bequem, dass es immer eine Krise gibt, für die man nicht selber verantwortlich ist.

Tatsächlich sind die Wirtschaftswissenschaften für die massivsten Fehlentwicklungen der humanen Kultur nach dem Rückzug des unheilvollen Einflusses der Kirche auf die menschliche Rationalität und dem Beginn der Aufklärung entscheidend mitverantwortlich. An all den vielen Krisen um uns herum sind sie beteiligt, und dies mit noch unabsehbaren Folgen. Sie sind ihre Miturheber, aber mittlerweile gehören sie auch zu ihren eigenen Opfern.

Die globale Krisenkaskade verstärkt wechselseitig ihre Quellen. Die Krise der Finanzen vernichtet das Kapital, das wir für wichtige Zwecke hätten aufsparen sollen. Die Krise der Wirtschaft nimmt den Menschen die Arbeit und mit ihr die Perspektiven von Millionen Menschen, die lohnende Lebensziele sein sollten. Die Krise der Politik gefährdet die Demokratie, die wir eigentlich stärken wollten. Die Krise der Wissenschaft verwirrt unser Wahrheitsverlangen, das sich von niemandem etwas vorschreiben lassen dürfte. Die Krise der Bildung verbaut die Zukunft der nächsten Generationen, die eigentlich die Chance bekommen müssten, es einmal besser zu machen als wir. Und die Krise der Umwelt, die eigentlich unsere Mitwelt ist, verhunzt die natürlichen und kulturellen Lebensgrundlagen auf einem Planeten, den wir erhalten müssen, denn er ist der einzige, den wir haben.

Wenn man alles in einem Wort zusammenfassen will, dann haben wir eine massive kulturelle Krise, die Krise einer global exportierten Kultur: "western civilization". Dies ist der wahre Hintergrund des Verteidigungskampfes des Islam, ja sogar der Aggressionen der Terroristen. Was wir der Welt als Kultur anbieten, sind kaum noch die Ideale des Christentums oder der französischen Revolution, sondern zuvörderst die der Wall Street. Wir erleben zu Recht eine Krise unserer Überzeugungen, dessen, was wir für wichtig, lohnend, erstrebenswert halten.

Unsere Innenwelten haben mithin ähnliche Schäden erlitten wie die, die wir unserer Um- und Mitwelt zugefügt haben; ja: die Umweltkrise ist Ausdruck unserer Innenweltkrise. Die Störung der Landschaften und Ökosysteme ist nur Folge der Störungen in unseren Ziel- und Wertvorstellungen. Insbesondere Ökonomik und Ökonomie waren dabei kulturelle Leit-Verführer. So gesehen haben wir zurzeit tatsächlich die Regierung bekommen, die wir verdienen. Unser wahrer Kulturstaatsminister heißt Rainer Brüderle. Verkörpert er jene Frische, den Aufbruch, die neue Denke, die die Schüler und Studenten fordern? Ist er nicht vielmehr die personifizierte bedrückende Drohung an unsere Gesellschaft, dass sich nichts ändern wird?"