Am kommenden Sonntag vor 20 Jahren: Deutsche Bomben auf Jugoslawien. Oder: Vorwärts auf die schiefe Bahn!

Minister Scharping und die Wahrheit: der „Hufeisenplan“

Am 24.März 1999 begann der Bombenkrieg der NATO. Er dauerte elf Wochen an, zeitweise wurden mehr als 1000 Flugzeuge eingesetzt. Sie nahmen keineswegs nur militärische Ziele ins Visier. Die Bombardierung des serbischen Rundfunks (16 Tote) und des Belgrader Fernsehturms (19 Tote) sind nur zwei Beispiele. Systematisch wurden auch Industrieanlagen und zivile Infrastruktur wie Brücken und Elektrizitätswerke zerstört. Durch den Angriff auf ein ausgedehntes Chemiekombinat in Pancevo wurden giftige und krebserregende Stoffe freigesetzt und bildeten eine riesige Giftwolke über der Stadt, so dass Ursula Stephan, damalige Vorsitzende der Störfallkommission der Bundesregierung, von „chemischer Kriegsführung mit konventionellen Waffen“ sprach. Auch mit Uran ummantelte Munition wurde verschossen, mehrere zehntausend Stück insgesamt. Schließlich ging man zu Flächenbombardierungen über, als die Bestände an „Präzisionswaffen“ und Marschflugkörpern zur Neige gingen.

 „Es begann mit einer Lüge“ (ARD-Film vom 8. Februar 2001)

Fast zwei Jahre nach dem Krieg sendete die ARD unter diesem Titel eine ausführliche Untersuchung von Journalisten des WDR zum Kosovokrieg (am 8. Februar 2001). Es lohnt sich noch heute, sich diese 73 Minuten lange mutige Analyse im Internet anzuschauen. Wir können an dieser Stelle nicht auf alle Aspekte eingehen, nicht auf die sogenannten Verhandlungen von Rambouillet, die in Wahrheit ein für die serbische Seite unzumutbares Diktat darstellten, nicht auf das angebliche serbische Konzentrationslager im Fußballstadion von Pristina, nicht auf das „Massaker von Rugovo“ und auch nicht auf viele weitere oft perfide Einzelbehauptungen, die sich als falsch herausstellten. Wir konzentrieren uns auf die zentrale Falschbehauptung.

Die rotgrüne Bundesregierung stand unter erheblichem Druck, ihre Entscheidung zur Teilnahme am Krieg vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Denn jeden Abend wurden die Bürger nun vor dem Fernseher Zeugen des hässlichen Kriegsgeschehens; aus „humanitären Gründen“ zu bomben, das wurde von Woche zu Woche fragwürdiger.

Zumal auch die, die man zu schützen vorgab, selber mehr Opfer zu erleiden hatten als je in den Monaten und Jahren zuvor. Das belegen viele Zeugnisse. Der Nordatlantikrat der NATO selber kam noch im Dezember 1998 zu der Einschätzung, dass die albanische UCK (und nicht die Serben) der Hauptanstifter der Gewalt sei. Der schon erwähnte deutsche General Heinz Loquai weist darauf hin, dass zwar beide Seiten die humanitären Regeln verletzt hätten, dass es aber keinerlei Anzeichen für eine massenhafte, systematische Vertreibung der albanischen Zivilbevölkerung gegeben habe, wie alle damaligen Berichte der OSZE-Beobachter und der Militärexperten beweisen. Das bestätigen auch weitere deutsche Vor-Ort-Beobachter wie Dietmar Hartwig oder Wolfgang Kaufmann, beide pensionierte Stabsoffiziere. Während Verteidigungsminister Scharping (SPD) zwei Tage nach Beginn des Bombenkrieges von einer „nicht-zählbaren Zahl von Toten“ im Kosovo sprach, die ein Eingreifen unabdingbar gemacht hätten, gab die OSZE insgesamt für den März bis zum 25. März 39 Tote an.

Machte der „Hufeisenplans“ den Krieg unumgänglich?

Zwei Wochen nach Kriegsbeginn behauptete Minister Scharping nun, ihm liege ein serbischer „Operationsplan Hufeisen“ vor, aus dem klar zu ersehen sei, dass die jugoslawische Armee und Polizei seit Oktober 1998 die großflächige Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo minutiös geplant habe. In Hufeisenform solle die Bevölkerung von drei Seiten umschlossen und dann zur offenen Seite nach Albanien ausgetrieben werden. Seit Januar 1999 werde das bereits ins Werk gesetzt. Scharping ließ es sich nicht einmal nehmen, mit einer Hufeisengraphik im Fernsehen aufzutreten. Die Botschaft war: der Krieg muss geführt werden, um die Katastrophe des Hufeisenplans zu vereiteln. Immer wieder – und über zwei Jahre – bekräftigte Scharping öffentlich, dass es diesen Plan gebe.

Die Sache hatte nur einen Nachteil: sie stimmte nicht. Das Haager Tribunal gegen Kriegsverbrecher wertete später die von Scharping überreichten Unterlagen als „von geringer Aussage- und Beweiskraft“, sie wurden nicht einmal in die Anklageschrift übernommen. General Loquai, der den Krieg in seinem Buch „Der Kosovo-Konflikt“ aufgearbeitet hatte, meldete sich in einer Panorama-Sendung vom 18. Mai 2000 zu Wort. Er müsse nach seinen Recherchen, in denen unter anderem interne Berichte des Verteidigungsministeriums und der OSZE ausgewertet worden seien, feststellen, dass dem Ministerium kein solcher Plan vorgelegen habe; selbst die Graphiken seien im Ministerium selber angefertigt worden. Weil es so unglaublich wie wichtig ist, hier Loquai in eigenen Worten:

„Ich habe dann um ein Gespräch im Verteidigungsministerium nachgesucht, das habe ich auch bekommen, das war im November (1999, A.M.), und dort hat man mir gesagt, es habe kein ´0perationsplan Hufeisen´ vorgelegen.“

 Lob vom NATO-Sprecher für Scharping, Schröder und Fischer

Der Minister hatte nicht die Wahrheit gesagt. Nachdem Scharping dem zunächst abermals widersprach, musste er später selber einräumen, dass ihm ein solcher Plan nicht vorgelegen hat. Da hatte die Erfindung natürlich ihren Zweck längst erfüllt, nämlich einen vermeidbaren Krieg noch viele Wochen lang weiterzuführen. NATO-Sprecher Jamie Shea kommentierte später, wenn man „die öffentliche Meinung in Deutschland verloren hätten, dann hätten wir sie im ganzen Bündnis verloren.“ Scharping, Schröder und Fischer seien ein „großartiges Beispiel für Führer, die nicht der öffentlichen Meinung hinterherrennen, sondern diese zu formen verstehen.“

Der prominente Politikwissenschaftler John Mearsheimer aus den USA hat in einer kleinen Schrift die Rolle der Lüge in der Politik nüchtern analysiert (Why Leaders Lie, 2011). Er kommt zu dem Ergebnis, dass Regierungen ihr eigenes Volk eher belügen als rivalisierende Staaten. Das scheine „besonders für Demokratien wie die Vereinigten Staaten zu gelten“, insbesondere dann, wenn sie zu “einem selbstgewählten Krieg in einer fernen Region entschlossen sind“. Man sieht also, dass die deutsche Demokratie hier leider von der amerikanischen gelernt hat, wodurch ohne Zweifel die vielbeschworenen „westlichen Werte“ weiter unterhöhlt wurden.

20 Jahre auf der schiefen Bahn, „westliche Werte“ unterhöhlt

Denn zu diesen Werten gehört die Herrschaft des Rechts einschließlich der Charta der Vereinten Nationen. Der ehemalige Kanzler Schröder hat den Verstoß gegen das Völkerrecht später (2014) öffentlich zugegeben, ohne allerdings auch von seiner Kriegsentscheidung abzurücken. Seitdem wird nicht mehr viel auf die Regeln des Völkerrechts gegeben. Lediglich die Verstöße anderer Staaten werden noch öffentlich angeprangert. Aber die Glaubwürdigkeit ist dahin. Seit 1999.

Teil I: 24. März 1999: Deutsche Bomben auf Jugoslawien Oder: vorwärts auf die schiefe Bahn!

Teil II: Das „Massaker von Racak“ als Kriegsgrund