24. März vor 20 Jahren: Deutsche Bomben auf Jugoslawien. Oder: vorwärts auf die schiefe Ebene!

Teil II: Das „Massaker von Racak“ als Kriegsgrund

Am 2. Mai 2000 schrieb Willy Wimmer, ehemals Staatsminister unter Helmut Kohl, einen empörten Brief an Bundeskanzler Schröder. Er habe vor wenigen Tagen in Bratislava an einer Konferenz teilgenommen, die vom US–amerikanischen Außenministerium und vom außenpolitischen Institut der Republikanischen Partei veranstaltet worden sei. Vor zahlreichen Regierungschefs und Ministern der Region hätten die Veranstalter haarsträubende Positionen vertreten: der Krieg gegen Jugoslawien 1999 habe geführt werden müssen, um eine Fehlentscheidung zu revidieren, die US-General Eisenhower im Zweiten Weltkrieg getroffen habe, als er darauf verzichtete, dort amerikanische Soldaten zu stationieren; bei der nun anstehenden NATO-Osterweiterung gelte es die räumliche Situation zwischen Ostsee und Anatolien herzustellen, die (angeblich, A.M.) zu Zeiten der größten Ausdehnung des römischen Reiches bestanden habe; nun müsse so schnell wie möglich das Kosovo als unabhängiger Staat völkerrechtlich anerkannt werden. Kein Wort also von der drohenden „humanitären Katastrophe“, die das Handeln der NATO angeblich bestimmt hat. Auf der Konferenz wurde genau der Weg beschrieben, den die USA seither konsequent gegangen sind. Und mit Camp Bondsteel in Ferizaj im Kosovo, für etwa 6000 US-Soldaten ausgelegt, ist auch der „Fehler“ Eisenhowers korrigiert worden.

Kosovo 1999: Blutiger Bürgerkrieg zwischen Staat Jugoslawien und albanischer UCK

Aber zurück zur Situation vor 20 Jahren im Kosovo. Der Kosovo war Teil der Bundesrepublik Jugoslawien und viele der albanischen Kosovaren wollten eine Autonomie oder gar einen eigenständigen Staat. Es ergab sich eine blutige Auseinandersetzung zwischen der UCK (albanische „Befreiungsarmee“), die Anfang 1998 erklärte, sie wolle den Kosovo von der serbischen Vorherrschaft befreien und das Gebiet an Albanien anschließen, und dem jugoslawischen Staat. Beide Seiten schonten dabei auch „gegnerische“ Zivilisten nicht. Bis Januar 1999, bis „Racak“, war die UCK allerdings für mehr Tote verantwortlich als die jugoslawischen Behörden, wie George Robertson, britischer Verteidigungsminister und ab 1999 NATO-Generalsekretär, erklärte.

Um die Kämpfe abzudämpfen, wurde das Holbrooke-Milosevic-Abkommen geschlossen, wonach eine OSZE-Mission von 2000 Beobachtern beschlossen wurde und Jugoslawien sogar zustimmte, dass die NATO das Gebiet aus der Luft überwachen durfte. Im Gegenzug sagte der US-Sonderbeauftragte Holbrooke zu, die UCK von weiteren Gewaltaktionen abzuhalten. Die Regierung hielt sich an die Vereinbarungen, die Lage entschärfte. Die UCK aber nutzte die Situation, um sich weiter zu bewaffnen und verloren gegangene Stellungen erneut zu erobern; da dem von westlicher Seite nicht begegnet wurde, bekam die UCK bis zum Januar 1999 wieder erhebliche Teile des Kosovo unter Kontrolle, aus denen sich die jugoslawische Armee vereinbarungsgemäß zurückgezogen hatte. Nun setzte sie wieder zum Gegenangriff an.

Massaker oder inszenierter Kriegsgrund?

Am 15. Januar wurden im Dorf Racak 45 Leichen gefunden. Schnell war die Rede vom „Massaker von Racak“, von der Hinrichtung unbeteiligter Zivilisten durch serbische Kräfte.

Der amerikanische Missionsleiter der OSZE, William Walker, traf am 16. Januar in Racak ein und berichtete von „Leichen mit weggeschossenen Gesichtern, weil man ihnen die Waffe offenbar direkt auf den Kopf gesetzt hatte, 15 davon offenbar wie bei einer Exekution hin-gerichtet“ und anderen schlimmen Dingen mehr. Für ihn war sofort – ohne weitere Untersuchungen – klar: vor ihm lagen keine Gefallenen des Bürgerkrieges, sondern Opfer einer brutalen Massenhinrichtung.

Der deutsche Brigadegeneral Heinz Loquai, ranghoher Beobachter der OSZE, beschreibt den Vorgang so: „Walker hat etwa 30 Journalisten um sich gesammelt, ist mit denen dahin gefahren und hat nach kurzer Zeit verkündet, dass es sich um ein Massaker der Serben handelt. Zu dieser Zeit konnte er überhaupt noch kein Urteil fällen, aber dieses Urteil wurde von der OSZE übernommen, wurde von den Vereinten Nationen übernommen, wurde kritiklos von allen nationalen Regierungen übernommen. Die NATO kam tags darauf zu einer Sondersitzung zusammen, ein völlig ungewöhnliches Ereignis. Man kann schon sagen, mit diesem Verhalten hat Walker die Lunte zum Krieg gezündet.“ (Monitor, ARD, 8.1.2001).

Schon diese Äußerung zeigt, dass es angemessen gewesen wäre, zunächst den Vorfall von Fachleuten verschiedener Disziplinen untersuchen zu lassen, um erst dann eine Bewertung zu versuchen. Zumal die serbische Seite darauf beharrte, dass die Toten keineswegs Zivilisten seien, sondern gefallene Kämpfer der UCK, die von dieser eingesammelt und am Rande von Racak so abgelegt worden seien, dass der Eindruck einer Massenhinrichtung von Zivilisten entstehen sollte. Und immerhin zogen zwei unverdächtige französische Journalisten, die vor Ort gewesen waren, die Darstellung von William Walker schnell in Zweifel.

Untersuchungen der Leichen durch drei Pathologenteams

Trotz der prompten Bewertung als „Massaker“ durch westliche – auch deutsche – Politiker gab es dann doch forensische Untersuchungen dreier Teams von Pathologen (eines jugoslawischen, eines weißrussischen und eines finnischen). Deren Befunde zu den Leichen waren weitgehend übereinstimmend, gaben wichtige Anhaltspunkte, konnten allerdings die Frage ´Massaker oder nicht´ aus verschiedenen Gründen nicht abschließend beantworten.

Nur einige Details:

1. Bei 39 der 40 untersuchten Leichen (fünf waren seltsamerweise nicht mehr auffindbar) fand sich kein Beweis für Schüsse aus der Nahdistanz oder gar für aufgesetzte Schüsse.

2. Alle untersuchten Getöteten wiesen Schussverletzungen auf und keine weiteren bedeutenden Verletzungen (wie sie etwa bei Verstümmelungen entstehen).

3. Sechs der Untersuchten hatten nachhaltige postmortale Beschädigungen, die höchstwahrscheinlich durch Tiere verursacht waren.

4. Ein getöteter 13-jähriger Junge, der nach dem ursprünglichen Bericht der OSZE einen Schuss ins Genick aufgewiesen haben soll, wurde durch einen Schuss getötet, der nicht aus der Nahdistanz abgegeben wurde.

Das macht zumindest klar, dass die Darstellung von William Walker und der OSZE in wichtigen Teilen falsch war. Die Angaben stammen von wikipedia, wo unter dem Stichwort „Massaker von Racak“ auf einer Länge von etwa 120 DIN A4 - Seiten versucht wird, die verschiedensten Fakten, Aussagen, und Untersuchungen, die es bis heute zu dem Vorgang gibt, einander gegenüberzustellen. Es gibt es keine eindeutige Antwort. Unbestritten ist aber, dass es militärische Auseinandersetzungen zwischen der UCK und jugoslawischen Polizei- und Militärkräften um Racak gab und dass jedenfalls ein Teil der Getöteten aus UCK-Kämpfern bestand (selbst der eigene Informationsdienst der UCK sprach damals von „acht gefallenen Kameraden“, was die OSZE komplett ausblendete).

Lässt sich nicht beweisen, lässt sich nicht ausschließen“

Dass sich die Frage nicht klären ließ, zeigt ein kleines Beispiel: Am 17.1.2001 berichtet die FAZ unter der Überschrift „Experten suchten vergeblich nach Beweisen“, das finnische Untersuchungsteam sei nicht zu dem Schluss gekommen, in Racak sei eine Gruppe friedlicher albanischer Dorfbewohner exekutiert worden; zwei Tage später wählt dieselbe Zeitung die Überschrift „Finnische Mediziner schließen Massentötung in Racak nicht aus“; die Experten hätten nämlich aus verschiedenen Gründen die Art und Weise, wie die Menschen zu Tode gekommen seien, nicht feststellen können.

Noch im Jahr 2010, also neun Jahre später, stellt Carl Polónyi, fest:

„Deutlich ist zumindest, dass weder im Januar noch zu Beginn des NATO-Bombardements klar war, was wirklich in Racak passiert war. Und anscheinend ist es bis heute nicht geklärt.“

Die NATO und fast alle westlichen Politiker taten aber so. Für Minister Fischer war Racak eindeutig „der Wendepunkt“. Die „humanitäre Krise“ habe durch Waffengewalt beendet werden müssen.

Norma Brown, US-Diplomatin im Kosovo, fasst die Lage ganz anders zusammen:

„Bis zum Beginn der NATO-Luftangriff gab es keine humanitäre Krise. Sicher, es gab humanitäre Probleme und es gab viele Vertriebene. Aber das spielte sich so ab: Die Leute verließen ihre Dörfer, wenn die Serben eine Aktion gegen UCK durchführten – und kamen danach wieder zurück. Tatsache ist: Jeder wusste, dass es zu einer humanitären Krise erst kommen würde, wenn die NATO bombardiert. Das wurde diskutiert: In der NATO, der OSZE, bei uns vor Ort und in der Bevölkerung.“

Teil I  24. März 1999: Deutsche Bomben auf Jugoslawien

Es folgt demnächst:

Teil III: Gab es einen „Hufeisenplan“?