Teuflische Damen, entblösste Herren. Shaw’s „Heartbreak House“ im Staatstheater

Als böse Seele des zivilisatorischen Abgesangs führt Guinness (Saskia Taeger, rechts) die Zuschauer durch ein anspruchsvolles Salonspiel voller Tiefgang. Foto: Birgit Hupfeld

Wenn man den Theatergänger nach dem Besuch der „zornigen Komödie“ fragt: „Mal ehrlich. Worum geht es eigentlich in Shaw’s Haus der gebrochenen Herzen?“, bekommt man vermutlich ein verlegenes Stammeln zu hören. Und schaut in ein unglaublich glückliches Gesicht, dessen Mundwinkel ein Lächeln umspielt. Continuity im Storytelling? Fehlanzeige. Roter Faden? Gibt’s nicht. Klare politische Botschaft? Nebulös. Durchgehender Konflikt? Nicht erkennbar. Tabellentauglicher Spiel-Endstand? 1:1:1:....

Umso bemerkenswerter, dass die neue Generalintendantin Dagmar Schlingmann sich das selten gespielte, sperrige und fast hundert Jahre alte Werk des irischen Dramatikers George Bernhard Shaw aussuchte, um ihren Einstand als Regisseurin am Braunschweiger Haus zu geben. Und daraus einen Theaterabend macht, der zu Recht mit über zehnminütigem Beifall belohnt wird.

 

Larissa Semke, Saskia Petzold und Tobias Beyer (v.l.) fechten den ewigen Konflikt der Geschlechter aus. Foto: Birgit Hupfeld

Im Haus des alten Seebären Kapitän Shotover (ständig pfeiferauchend: Klaus Meininger) versammelt sich dessen verkommene Sippe: die frivole Tochter Ariadne (Gertrud Kohl), die lukrativ in den Adel eingeheiratet hat, die ältere Hesione (Saskia Petzold) samt Gatten (Georg Mitterstieler), Schwager Randall (Götz van Ooyen), dazu Parvenüs, Glücksritter, zwischendurch mal ein Einbrecher und die kleine Ellie (Larissa Semke), die sich verblüffend vom biederen Backfisch in einen Teenie-Vamp à la „Dallas“-Lucy verwandelt. Im Stile eines Riff-Raff aus der Rocky-Horror-Show dirigiert das haushälterische Faktotum Guiness (Saskia Taeger) mit dem Mienenspiel einer Domina das Tun und Lassen dieser gelangweilten britischen Lower Upper Class, die nicht einmal zu bemerken scheint, dass rundherum bereits der erste Weltkrieg tobt.

In diesem Haus, das an einen alten Schiffsbauch erinnert und „in dem die Seele erstickt“ (Guiness) palavern die Protagonisten über gute Geschäfte und Liebesleid, entblössen sich und ihre Bedeutungslosigkeit wie der ständig golfspielende Alfred „Boss“ Mangan (Tobias Beyer) oder warten wie Mazzini Dunn (Heiner Take) „ständig auf die Revolution, aber nichts passiert“. Wie auch, wenn keiner der Unzufriedenen etwas unternimmt, sondern Alle nur kollektiv klagen? Selbst der Einbrecher Billy (Matthias Schamberger) wird nicht erschossen oder der Polizei ausgeliefert, weil die Angst umgeht: „Wenn wir dann vor Gericht unser Privatleben erklären müssen...“

 

Boten eine geschlossene Ensemble-Leistung (v.l.): Georg Mitterstieler, Larissa Semke, Gertrud Kohl, Götz van Ooyen, Saskia Petzold, Klaus Meininger, Tobias Beyer, Saskia Taeger. Foto: Birgit Hupfeld

Lediglich „die Enkelinnen des Teufels, die reizenden Frauen“ behalten in der Stunde der Katastrophe, als die Bomben längst im Vorgarten explodieren, noch die Hosen (respektive Kleider) an. Während eine zittrige Flöte „Freude schöner Götterfunken“ intoniert, stellt Guiness lakonisch fest: „Wen interessiert denn heute noch ein Krieg in Afrika. Die Welt ist so dürftig geworden, dass sie nicht in der Lage ist, das Fehlen Gottes als Fehlen zu bemerken.“

Die Wehmut über das vergebliche Streben der Verdammten lässt unwillkürlich Assoziationen zum legendären Eagles-Titel „Hotel California“ der Alt-68-er aufkeimen. Geradezu genial mischt Regisseurin Dagmar Schlingmann die Dialoge mitunter ineinander, so dass das einzelne Wort untergeht – und nur noch eine kollektive Stimmung am Verstand des Besuchers vorbei direkt in sein Gefühl zielt.

„Eine Phantasie englischer Themen nach russischer Manier“ nannte Bernhard Shaw sein Stück, dass in der Tat an Tschechow erinnert und damit ganz frappierend an die letzte Inszenierung „Betrunkene“ der letzten Spielzeit anschließt. Dagmar Schlingmann hat es hervorgeholt, entstaubt und in einen Kontext gestellt, der gerade heute wieder aktuell ist.