Die Nathanisierung der Selbstverständlichkeit

Der „Nathan“ des Diwan-Theaters aus Osnabrück. Seine Weisheit sieht man dem Chef – natürlich – am Barte an. Foto: Stadt Braunschweig / © Diwan Theater

War da mal was auf der Kölner Domplatte, mit der Flüchtlingskrise 2015, mit der Migration Anders- (oder überhaupt?-) Religiöser? Gab’s da mal eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Islam, dem Judentum, der Betrachtung des eigenen christlichen Glaubens? Weist der/die gemeine Deutsche fremde Kulturen, Ethnien, Menschen, Anschauungen und Glaubenszugehörigkeiten von sich? Ja?

Dann gibt’s da ein Allheilmittel: Gotthold Ephraim Lessing’s „Nathan der Weise“. Einmal gucken wirkt schneller als Pusten und tut nicht mal weh. Nathan – und schon sind die Schmerzen über Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzung und religiöse Intoleranz gelindert. Warum gibt es Nathan noch immer nicht auf Rezept gegen Rassismus?

Der „Nathan“ im Staatstheater Braunschweig. Alle Protagonisten tragen weiße Gewänder. Ihre Glaubenszugehörigkeit wird durch verschiedenfarbige Armbinden gekennzeichnet. Nicht unbedingt eine Idee, die der Regie vor der Praxis der nationalsozialistischen Verfolgung einen Punkt in Sensibilität einbringt. Foto: ©Staatstheater Braunschweig / Bettina Stoess

Mit der ihr eigenen Flinkhufigkeit reagiert die Kultur nun auch in Braunschweig. Das Staatstheater eröffnete die Sprechtheatersaison, na klar, mit dem „Nathan“. Im Rahmen der Reihe „Kultur vor Ort“ führt das Diwan-Theater aus Osnabrück am kommenden Samstag, 13. Oktober, um 19.30 Uhr, den „Nathan“ in der Dankeskirche am Tostmannplatz auf. Und Lessing’s „eindrucksvoller Stoff über Toleranz und Menschlichkeit“ (Pressetext Stadt Braunschweig) gehört seit Jahrzehnten zum Standard-Repertoire aller Deutschkurse an weiterführenden Schulen: wer die „Ringparabel“ nicht kennt, kriegt sein Abi nicht (es sei denn, er kennt sich in Relativitätstheorie relativ gut aus. Das gildet dann auch).

Ein wenig peinlich ist schon, dass Lessing sein „dramatisches Gedicht“ über den Konflikt zwischen Judentum, Christentum und Islam schon vor fast 250 Jahren (1779) geschrieben hat. Entweder hatten zeitgenössische Autoren dem Thema seither nichts mehr hinzuzufügen, oder in den Denkabteilungen der Theater und Kulturinstitutionen geht man lieber auf Nummer sicher: Mit dem „Nathan“, den die Nazis verboten, macht man schon nichts falsch. Ungemach drohen könnte dem Werk allerdings demnächst durch die „me-too“-Bewegung: Lessing lässt seine männlichen Protagonisten doch recht hanebüchen und frauenfeindlich in der Damenwelt verkehren, um sein Lehrstück zum Thema „Toleranz“ zu einem fabelhaften Fibelende à la Brecht zu führen.

Bitte, bitte, bitte liebe TheatermacherInnen: Nathanisiert doch nicht immer reflexartig die religiöse Toleranz. Die Alternative muss ja nicht gleich mit den Worten „Barblin weißelt.“ beginnen. Sucht Euch neue Stücke, erfindet welche, aber langweilt uns nicht immer mit demselben Format, bei dem höchstens noch die Kostüme wechseln.